Am Donnerstagabend mit dem Railjet von Baden-Württemberg nach Hessen. Mit dem Nacht-ICE weiter über Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen nach Hamburg. Eine Wanderung auf den höchsten Gipfel von Bremen. Mit dem Flixtrain über Sachsen-Anhalt und Brandenburg weiter nach Berlin, dort am Samstag eine Weihnachtsmarkt-Wanderung. Am Sonntag dann in den Harz, für eine Wanderung auf den höchsten Gipfel von Niedersachsen. Rückfahrt über Thüringen. Macht an drei Tagen drei Wanderungen – und zehn Bundesländer.
Anlass der Reise ist eigentlich der 40. Geburtstag meines Freundes Dirk in Berlin. Logische Reiseplanung wäre also ein Partywochenende in Berlin gewesen. Aber was ist bei meinen Reiseplanungen schon logisch? Ich nehme den Freitag frei und überlege, was man in eine Hin- und Rückfahrt nach Berlin alles einbauen kann an Straßen- oder Eisenbahnstrecken, die ich noch nicht kenne. Aber die meisten Überlegungen scheitern daran, dass gerade eine Bahnstrecke gesperrt ist, die ich dafür brauche. Also Alternativüberlegung: Welche der 16summits (die höchsten Gipfel der 16 Bundesländer) fehlen mir noch? Bei einem meiner letzten Berlin-Besuche im Februar hatte ich ja in die Rückfahrt den höchsten Gipfel von Brandenburg eingebaut, seitdem ist mein 16summits-Projekt noch nicht fortgesetzt. Es fehlen noch Bremen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
Ich finde einen Sparpreis Stuttgart – Bremen via Frankfurt für 13,49 €. Von Bremen nach Berlin geht es ebenfalls günstig: Deutschland-Ticket nach Hannover, Flixtrain nach Berlin. Läuft. Ich prüfe noch, ob der Nacht-ICE nach Bremen teurer wäre, wenn ich gleich bis Hamburg durchlöse: ist er nicht. Ich buche also bis Hamburg und halte mir die Option offen, länger zu schlafen und von Hamburg mit dem RE nach Bremen zurückzufahren. Ich will ja den höchsten Gipfel von Bremen bei Helligkeit erleben, die startet Ende November erst recht spät.
Der Railjet in Stuttgart (er fährt von Wien via Arlberg und Bodensee nach Frankfurt) wird zum Fahrplanwechsel Mitte Dezember leider gestrichen – ich genieße ihn also ein letztes Mal. In Frankfurt hat er nur 20 Minuten Verspätung, sodass ich noch durch die nasskalte Stadt spazieren muss, bis der Nacht-ICE bereitgestellt wird. Das teilgentrifizierte Bahnhofsviertel und das weihnachtlich beleuchtete Bankenviertel sind aber durchaus attraktiv, sodass ich bis zur Hauptwache spaziere.
Zurück am Bahnhof steht mein Zug schon bereit – ein ICE1. Zu Bahncard100-Zeiten bin ich oft mit diesem Nachtzug – damals war es noch ein IC – zwischen Frankfurt und Hamburg gefahren, um Samstag etwas in Süddeutschland und Sonntag etwas in Norddeutschland anzuschauen. Sprich: Good memories.
Ich sichere mir einen superbequemen Abteilplatz (ICE 1 ist einfach ein großartiger Zug) und kann den größten Teil der Strecke bequem die Füße hochlegen. Es sind selten mehr als drei Personen im Abteil – wobei einer davon seinen Rausch auf dem Abteilboden ausschläft.
Die Fahrt beginnt pünktlich – die Pünktlichkeit endet aber gewohnt schnell. Wegen einer Weichenstörung kommen wir 20 Minuten zu spät am Frankfurter Flughafen an, in der Nacht summiert sich die Verspätung auf über 40 Minuten. Ich rechne also damit, schon in Bremen aussteigen zu müssen, weil es sonst zu spät wird.
„Wir erreichen jetzt Bremen. Dort erreichen Sie noch den Intercity nach Leipzig, wenn Sie die Hacken in Teer hauen.“ Oh wow, die Verspätung ist auf 12 Minuten geschmolzen, ich kann doch bis Hamburg weiterschlafen. Und der Schaffner ist richtig cool.
„Sehr geehrte Reisende, wir erreichen gleich die schönste Stadt der Welt - und da dann den Hauptbahnhof“. Ich mag Zugbegleiter, die ihren Lokalpatriotismus nicht verbergen. Ich hab mal ein lautes Lachen im ICE erlebt, als bei der Ankunft in Köln „die schönste Stadt der Welt“ angekündigt wurde. In Hamburg lacht niemand, da kauft man ihm das eher ab. Oder es schlafen alle noch. Die englische Ansage beginnt er mit „Moin and welcome!“ Ich mag ihn. Und er ist beileibe nicht der einzige nette Mensch, der mir in meinen genau zehn Minuten Aufenthalt in Hamburg begegnet. Wahnsinn, wie gut gelaunt hier alle sind, morgens um sieben. Hamburger Mentalität ist genau mein Ding. Franzbrötchen und Cappuccino auch. Die besorge ich mir schnell, dann besteige ich den metronom zurück nach Bremen.
Bremen Hauptbahnhof ist nicht nur einer der schönsten Bahnhöfe Deutschlands, es gibt auch einen richtig guten Zeitschriftenladen und Haferkater, meine Lieblings-Bahnhofskette. Darauf werde ich später zurückkommen. Jetzt wird erstmal gewandert: Um 8:45 Uhr starte ich am Bahnhof Bremen Burg in den nebligen Nieselregen. Der GPS-Track führt mich an einer lustigen Lagerhalle vorbei, dann geht es gleich auf einen schönen Weg entlang der Weser – zumindest denke ich erst, dass dieser breite Fluss die Weser ist. Es handelt sich aber um die Lesum. Die was? Falls die Frage mal bei „Wer wird Millionär?“ gestellt wird: Die Lesum entsteht durch den Zusammenfluss von Wümme und Hamme und mündet nach nur zehn Kilometern in die Weser. Das Verhältnis von Flussbreite zu Flusslänge dürfte recht einzigartig sein.
Wind und Nieselregen sind so nervig, dass selbst die Einheimischen grimmig schauen. Ich hätte erwartet, dass dieses Wetter für die Bremer business as usual ist. Anders als das Wetter ist die Landschaft echt schön, auch der Stadtteil Lesum gefällt mir. Nur Berg erahne ich weit und breit keinen. Dabei ist es gleich so weit: die „Erhebung im Friedehorstpark“ ist mit 32,5 Metern über dem Meer der niedrigste der höchsten Berge der deutschen Bundesländer. Und den Friedehorstpark habe ich jetzt erreicht. Eine Infotafel am Parkeingang schwärmt von alten Bäumen und natürlichen Lebensräumen – und übertreibt nicht. Es ist echt schön hier, mehr Wald als Stadtpark. Nur was ich weiterhin nicht finde, ist ein Berg. Auch nicht da, wo ihn komoot verortet. Mein Fehler: ich habe den Abzweig verpasst. Ungewollt drehe ich eine Runde durch den wunderbaren Park – und meistere von der Gegenseite schließlich den Schlussanstieg. „32 m ü. NHN – höchste natürliche Erhebung Bremens“ – diese Inschrift steht tatsächlich auf einem Gipfelkreuz. Es dürfte eines der niedrigsten der Welt sein. Ich genieße die Aussicht in den Park, dann steige ich wieder ab. Etwa 5 Höhenmeter weiter unten stehe ich an der Stelle, wo ich auf dem Hinweg hätte abbiegen müssen.

Ich beende die Wanderung an der nächsten S-Bahnstation, der Nieselregen lädt nicht zu einer Verlängerung ein. Ich spaziere aber noch eine größere Runde durch Vegesack, ein sehr sehenswerter Bremer Stadtteil mit maritimer Vergangenheit und Gegenwart. Ich lerne, dass der Weser-Radweg hier auf einer Autofähre die Weser quert und erinnere mich daran, dass ich den noch nie gefahren bin. Für die letzte Station zurück zum Bahnhof Vegesack steige ich in einen Elektro-Gelenkbus, der gerade kommt. Meine 10.000 Schritte für heute habe ich ja eh schon übertroffen. Um 10:30 Uhr.
Mit einem (trotz sieben Doppelstockwagen) gut
gefüllten RE fahre ich bald darauf von Bremen Hauptbahnhof nach Hannover
Hauptbahnhof. Vor beiden Hauptbahnhöfen stehen Weihnachtsmarktbuden –
aber nur in Hannover gibt es zwei Buden in Form einer historischen
Straßenbahn. Ich lerne: das ist das Weihnachtsdorf des Zirkus Roncalli,
die historischen Buden sind mit der Bahn angereist.
Mit leichter Verspätung startet mein Flixtrain seine letzte Etappe nach Berlin. Jetzt, wo mein Bahnkarma an Bord ist, wird die arme, sympathische Schaffnerin aber zunehmend pessimistisch. Erst müssen wir in Wolfsburg einen Schwarzfahrer vor die Tür setzen. Dann „Streckenstörung“. Langsamfahrt auf dem Gegengleis. Wieder stehen bleiben. „Ihr Lieben, das ist nochmal ein außerplanmäßiger Halt", meldet sie sich über die Lautsprecher. Irgendwann ist es dann aber doch geschafft: Mit gut 40 Minuten Verspätung komme ich in Berlin-Gesundbrunnen an, bald darauf treffe ich in unserer sympathischen Pension im Prenzlauer Berg meine Freundin.
Wir genießen die Party und am nächsten Morgen den Brunch mit dem Geburtstagskind. Dann starten wir unsere Weihnachtsmarktwanderung: Weihnachtsmarkt Schloss Charlottenburg (Kilometer 1) – Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz mit dem Highlight „X-Mas Döner“ (Kilometer 6) – Weihnachtsmarkt der schwedischen Gemeinde mit Elchwurst und Glögg (Kilometer 9) – Weihnachtsmarkt Domäne Dahlem mit igitt Grünkohl (Kilometer 15). Wir beenden die Wanderung nach 18 Kilometern am Botanischen Garten, der sich aktuell in einen Christmas Garden verwandelt hat. Entlang der Wanderung sehen wir viel spannende Architektur und entdecken neue Ecken in der Stadt, in der man nie alles gesehen haben wird. Der Mobilitätsmensch in mir freut sich über die Infodisplays an der Straße des 17. Juni: „Ständige Vorsicht und Rücksicht StVO §1 (1)“; „Beim Parken: Vor dem Türöffnen auf Radfahrende achten!“; „In 2025 bereits 18 Unfalltote. Rücksicht nehmen!“; „Beim Überholen von Radfahrenden mind. 1,5m Abstand“. Auf dass die Appelle helfen, den Verkehr sicherer zu machen. Die Infrastruktur macht es sicherlich nicht: Vier Pkw-Fahrspuren pro Richtung, links daneben parkende Autos, rechts daneben parkende Autos, im Mittelstreifen parkende Autos. Die Reparatur dessen, was unter der Überschrift „autogerechte Stadt“ alles zerstört wurde, dauert lange. In Berlin deutlich länger als in anderen europäischen Hauptstädten…
Am Sonntag verlasse ich Berlin noch vor Sonnenaufgang – aber nicht vor einem Großeinkauf bei Haferkater. Die Filiale am Ostkreuz öffnet genau für mich passend um 6:30 Uhr. Eigentlich wollte ich heute mit dem durchgehenden „Berlin-Harz-Express“ (HBX) von Berlin nach Wernigerode fahren – aber der wurde scheinbar aus dem Fahrplan gestrichen. Der DB Navigator macht widersprüchliche Angaben, ich weiche sicherheitshalber auf den früher fahrenden RE nach Magdeburg aus. Auf dem Bahnsteig am Alexanderplatz sehe ich, dass es den HBX doch gibt – aber zu einer völlig anderen Fahrtzeit als von der Bahn angegeben…
In Magdeburg nutze ich die Umstiegszeit, um mir ein zweites Frühstück zu organisieren (Kaffee plus Croissant für 3,39 €, fast italienische Verhältnisse). Das genieße ich im Zug nach Wernigerode, während sich der Harz immer näher ans Zugfenster schiebt.
In Wernigerode hätte ich theoretisch direkten Anschluss an die Brockenbahn. Die Dampflok startet zum höchsten Berg von Sachsen-Anhalt, aber da war ich schon, ich will auf den höchsten Berg von Niedersachsen (Wurmberg), in dessen Nähe komme ich nur mit dem Bus. Von einer eigens für diesen Anlass angelegten Dampflok-Aussichtsplattform fotografiere ich die Abfahrt des Dampfzugs, dann begebe ich mich zum Bus Richtung Braunlage.
An der Haltstelle Bremkebrücke steige ich aus dem Bus direkt in den Schneematsch. Die Nicht-Haltestelle befindet sich direkt an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, zwischen Elend und Braunlage (wobei ich letzteres als elendiger empfinde). Ich starte im kalten Nieselregen meine Wanderung auf dem früheren Grenzpatrouillenweg und höre dabei die Autobiographie von Rick Zabel. „Qualität kommt von quälen“ wird im Hörbuch sein Vater Erik Zabel zitiert. Das passt ganz gut zu meiner heutigen Wanderung… Der Rucksack ist schwer und es geht steil bergauf – viel steiler, als es auf den Fotos aussieht.
Den Schlussanstieg könnte ich auf einer Treppe entlang der früheren Skisprungschanze zurücklegen, die spare ich mir aber für den Abstieg auf. Bergauf traue ich mich auch über den rutschigen Wanderpfad, der in Serpentinen hinaufführt. Schnee, Eis, Regen, Wind: alles dabei, was man nicht braucht. Schließlich erreiche ich die ersehnte Plakette: „971 m ü NN – Höchster Gipfel Niedersachsens. Zweithöchster Gipfel des Harzes“.
Was ich jetzt brauche: Einen warmen Linseneintopf. Den gibt es in der Wurmbergalm. Ich muss allerdings vorab klären, ob man mit Karte zahlen kann: „Ab 10 € bist du dabei!“. Läuft. Ich esse, trockne und versuche, die Schlagermusik auszublenden.
Der Aussichtsturm hat witterungsbedingt leider geschlossen, die Seilbahn befindet sich in der Revision. Ich genieße den Gipfel also bei starkem Wind und niedrigem Andrang. Auf dem Abstieg muss ich mich dann ein bisschen beeilen, um den angepeilten Bus zu kriegen. Es geht durch zerstörten Wald hinab nach Braunlage, das leider genau so aussieht, wie es heißt.
Als ich an der (End)Haltestelle ankomme, ist der Bus schon da. Im Bus läuft der selbe Schlagerquark wie in der Alm, immer wieder unterbrochen vom redseligen Busfahrer. „Na jut, dann wolln wa ma los“, sagt er und startet zwei Minuten vor der planmäßigen Abfahrt den Motor. „Och, is ja noch Zeit, jetzt wär ich fast zu früh losjefahrn.“ Mit dem Schlagerbus geht es nach Walkenried, wo ich auf meiner Deutschland-Radreise 2020 das UNESCO-Welterbe-Zisterzienserkloster besichtigt hatte. Ein ungepflegter DB-Zug bringt mich anschließend nach Nordhausen. Ich wollte eigentlich auf der Zugtoilette die müffelnde Wanderkleidung wechseln, aber das Klo ist kaputt…
Von Nordhausen geht es später mit einem RE
nach Kassel-Wilhelmshöhe, also zum einzigen Bahnhof Deutschlands, der
noch zugiger ist als der Wurmberg. Ab dort habe ich mir einen Flixtrain
zurück nach Stuttgart gegönnt – Deutschland-Ticket hätte mit den
diversen Streckensperrungen selbst mir zu lange gedauert. Aber erstmal
habe ich in Nordhausen eine Stunde Aufenthalt. Und in Nordhausen gibt es
eine spannende Straßenbahn… Also mal schauen, was sich in einer Stunde
ausgeht. Ergebnis: mit der Hybrid-Straßenbahnlinie 10 durch die
Innenstadt zum Südharzklinikum und wieder zurück – und noch weiter: am
Bahnhof wechselt die Straßenbahn von Stromabnehmer auf Dieselmotor und
jault dann über ein Verbindungsgleis auf das Netz der Harzer
Schmalspurbahnen. Da fahre ich noch drei Stationen mit bis zur
Ricarda-Huch-Straße. Dort muss ich nur fünf Minuten auf den Gegenzug
warten: diesmal keine Straßenbahn, sondern ein historischer
Dieseltriebwagen der Harzer Schmalspurbahnen. Ich will hinten
einsteigen, krieg aber die Tür nicht auf. Leicht panisch renne ich zur
geöffneten vorderen Tür und werde entspannt empfangen mit den Worten „Es
wird nur vorne eingestiegen, Meister!“ Großartig, was man mit dem
Deutschlandticket alles fahren kann! Die Harzer Schmalspurbahn ist
tatsächlich im Deutschlandticket inkludiert. Mit Ausnahme der
Brockenbahn. Es sei denn, man kauft sich sein Deutschlandticket-Abo bei
der Harzer Schmalspurbahn – dann darf man auch einmal auf den Brocken
fahren. Aber wie gesagt, auf dem Brocken war ich schon. Was mir hingegen
noch fehlt, sind die höchsten Gipfel von Nordrhein-Westfalen und
Schleswig-Holstein. Mein 16summits-Projekt biegt auf die Zielgerade
ein.
















































