Die schnellsten Regionalzüge Deutschland


Ein freier Samstag. Noch nicht wieder richtig fit für Sport, die Freundin auf Dienstreise, Regen im Anmarsch - was machen? Daheim hocken und Trübsal blasen? Quatsch. Ich habe ja ein Deutschland-Ticket. Und schon länger den Plan, an einem Eisenbahntag die schnellsten Regionalzüge Deutschlands zu kombinieren. Die schnellsten heißt: alle, die schneller fahren als 160 km/h. Davon gibt es nur drei Stück, alle drei fahren auf Schnellfahrstrecken: Wendlingen - Ulm (RE200), Ingolstadt Nord - Nürnberg (RE1 München-Nürnberg), Ebensfeld - Erfurt (RE29 Nürnberg - Erfurt). Auch auf anderen Schnellfahrstrecken fahren planmäßig (z.B. Stuttgart - Vaihingen) oder nur baustellenbedingt (z.B. letztes Jahr Lohr - Würzburg) Regionalzüge, aber nicht schneller als "regionalzugübliche" 160 km/h. Erwähnt werden soll, dass man mit dem Deutschland-Ticket auf manchen Strecken auch IC fahren darf. Schneller als 160 km/h geht das nur auf einer Strecke (und nur noch bis die Deutschen Bahn
die bequemen 200km/h-Intercitys in wenigen Monaten durch unbequeme 160km/h-Intercitys ersetzen wird...):  zwischen Berlin und Eberswalde. Aber da bin ich vor ein paar Wochen schon gefahren

Es sind also drei Strecken, die ich abklappern will. Ich starte in Esslingen bzw. Stuttgart, der nördliche Wendepunkt ist Erfurt. Kurze Recherche, ob das an einem Tag hin und zurück funktioniert: es funktioniert.

Aber ein bisschen stupide ist das schon, denn halben Tag nach Erfurt gurken, um die zweite Tageshälfte auf einer anderen Route wieder zurückzugurken. Spannender wäre es, im Norden zu starten und mich nach Süden durchzuhangeln. Dann könnte ich noch Strecken (und Straßenbahnlinien in Magdeburg) einbauen, die ich noch nicht kenne. Und darum geht es ja eigentlich: Das mit den schnellsten Regionalzügen des Landes ist ja nur ein Gag, das mit sämtliche Bahnstrecken Deutschlands sammeln ist mein voller Ernst.

Ich brauche also einen Nacht-ICE in den Norden. Den gibt es ab Karlsruhe. Und er kostet spontan zwei Tage vorher nur 14,99 €. In Wolfsburg kommt er unangenehm früh an. Aber wenn ich bis Stendal durchfahre und von da mit einem anderen ICE nach Wolfsburg zurück, also länger schlafen kann, bleibt es bei 14,99€. Gebucht.

Los geht es um 20:32 Uhr am Stuttgarter Hbf. Vorher war ich auf einer Einweihungsfeier und in der Stadtbücherei. Ich leihe mir für die Fahrt "Ein Bulle im Zug" von Franz Dobler. Ein Polizist erschießt einen Kriminellen und fährt danach mit einer Bahncard 100 kreuz und quer durch Deutschland. Das passt doch irgendwie zu meinen nächsten 25 Stunden. Abgesehen davon, dass ich niemanden erschießen möchte, bevor ich kreuz und quer durchs Land fahre. 

Der RE1 setzt sich pünktlich in Bewegung. Auch zu später Stunde ist der Zug noch gut besetzt, aber ich finde einen Sitzplatz. Gleich nach der Abfahrt geht es zum ersten Mal im Regionalzug auf eine Schnellfahrstrecke: der erste Abschnitt der "ICE-Strecke" Richtung Mannheim kann seit ein paar Jahren auch mit Regionalzügen erfahren werden. Hinter Zuffenhausen taucht der Zug im ersten Tunnel ab. Richtig angenehm ist das nicht im nicht druckdichten FLIRT-Triebzug, aber schnell ist es: 14 Minuten bis Vaihingen an der Enz, 53 Minuten bis Karlsruhe. Das schafft man nur mit der Bahn. 

Der Karlsruher Hauptbahnhof hat eigentlich eine außergewöhnlich gute Geschäfte-Auswahl (ich sag nur: Haferkater!). Aber nicht mehr um 21:30 Uhr. Wenn nur noch McDonald's geöffnet hat - dann gehe ich lieber auf der anderen Straßenseite in die Erste Fracht und genieße ein leckeres Bier vom Fass. Hoch die Hände, Wochenende!

 



Der ICE4 ist leider ein ICE4. Ja, mein Zug hat die Zugnummer 4. Er kommt aus der Schweiz und will nach Berlin. Und nimmt mich für 15€ bis nach Stendal mit. Das ist sehr nett von ihm. 



10 Minuten vor dem Wecker wache ich auf und bin erstaunt, dass es hier im Osten schon um 5:50 Uhr draußen Licht gibt. Was es noch nicht gibt, ist ein geöffneter Bäcker im (übrigens sehr schönen!) Bahnhof Stendal. Kein Problem: der ICE, der mich nach Wolfsburg zurückbringt, steht schon frühzeitig bereit, und er hat einen Speisewagen (genaugenommen sogar zwei, in beiden Zugteilen).

 


Frühstück bei 250 km/h, mit Blick auf den Sonnenaufgang. Das Verkehrsmittel Bahn ist einfach unschlagbar. Und meine kleine Reise hat sich schon jetzt gelohnt. Die 649 Kilometer von Karlsruhe bis Stendal habe ich tatsächlich fast vollständig verschlafen. Und so bin ich jetzt schon überraschend wach, um die flache Landschaft zu genießen. Mir gefällt der Gedanke, dass 200 Meter hinter mir ein weiteres Restaurant mit 250 km/h durch die Gegend rauscht. Da genießt vielleicht auch gerade jemand sein französisches Frühstück im Niemandsland zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen.


"Sogar die Autostadt hat einen Bahnhof". Einen recht markanten zudem. Aber Wolfsburg stinkt. Ich kann gar nicht sagen, ob es das VW-Heizkraftwerk, die Schiffe auf dem Mittellandkanal oder die Autos sind: Die Stadt stinkt. Aber der Stadtgeograph in mir findet sie spannend, diese von den Nazis auf dem Reißbrett geplante Stadt des Kraft-durch-Freude-Wagens. Wo sonst kann man seinen am Bahnhof stehenden ICE gemeinsam mit einem Schiff fotografieren? Wo sonst kann man die Architektur der 50er noch so in Reinform erleben? Dieses Eisenhüttenstadt des Westens sieht aus wie ein Ludwigshafen mit Geld. Und mit ganz vielen VWs. Ich scheitere an der mir selbst auferlegten Fotochallenge "mach ein Foto, auf dem kein VW drauf ist".





Weiter geht's nach Magdeburg. Der Regionalzug ist gut beheizt und super bequem, ich freue mich über den leeren Lounge-Bereich im vorderen Zugteil. Die Landschaft auf dieser für mich neuen Strecke ist schön, aber unspektakulär. Höhepunkt sind die zwei Brücken über den Mittellandkanal. 





Der Straßenbahn-Fahrplan ist heute nicht mein bester Freund, aber das Wetter ist es. Statt mich zu ärgern, dass die nächste Bahn nach Herrenkrug erst in 19 Minuten fährt, lege ich die gut zwei Kilometer einfach zu Fuß zurück. Durch die Elbauen, auf dem Herrenkruger Steg auch auf die Elbe. Ich mag Flüsse, die nicht zu Tode kanalisiert sind, sondern bei denen man auf den ersten Blick erkennen kann, in welche Richtung sie fließen. Die Elbe ist so ein Fluss.









Auf einer schicken neuen Brücke überquert die Straßenbahn die Elbe - der alte Vorgängerbau steht noch daneben. Ich blicke aus dem Straßenbahnfenster auf ein paar Highlights dieser unterschätzten Landeshauptstadt - König Otto (der Große, nicht der Rehagel), Friedensreich Hundertwasser und stalinistische Zuckerbäcker haben hier architektonische Spuren hinterlassen. Die jahrelange Großbaustelle am Hauptbahnhof ist endlich beendet: auf zwei Etagen kann man jetzt die Bahngleise unterqueren. Oben Straßenbahnen und Fahrräder, darunter im Tunnel versteckt Autos. 




Vorbei an verfallenden wie auch an sanierten Altindustriebauten verlässt der RE nach Erfurt die sachsen-anhaltinische Landeshauptstadt. Die Strecke von hier in die thüringische Landeshauptstadt ist nicht elektrifiziert. Nicht nur deshalb erschrickt man über den Zustand der Infrastruktur in Deutschland, wenn man auf dieser Strecke aus dem Fenster blickt. Schöne Landschaften, verfallene Industrie, vernachlässigte Eisenbahn, unfreundliche Menschen im Zug: (Ost)Deutschland im Kleinformat. Aus dem Loungebereich hinter der Glasscheibe dröhnt der Sound einer quietschenden Fahrradpumpe. Soll wohl Musik sein, was die Kurzhaarigen da hören. Man könnte von Magdeburg nach Erfurt natürlich auch schneller mit IC und ICE via Halle fahren. Dann säße man wieder mit dem Teil der Bevölkerung zusammen, der sich ICE fahren leisten kann, und der ständig zu irgendwelchen wichtigen Meetings fahren muss. In ganz Deutschland immer die gleichen Menschen. Menschen wie ich. Im Regionalexpress hingegen: je nach Region unterschiedliche Typen und unterschiedliche Dialekte, ein repräsentativerer Bevölkerungsquerschnitt. Deutschland ist nicht ICE, Deutschland ist Regional-Express. Ich fahre gerne Regional-Express. Aber wer mit dem RE von Magdeburg nach Erfurt fährt, der wundert sich nicht mehr über die Wahlergebnisse in dieser Region...

Die Glatzen-Luftpumpe wird jetzt übertönt vom tragbaren UKW-Radio des älteren Mannes mit der gestörten Mundschließfunktion. Er hört Schlager. Also immer dann, wenn das Radio Empfang hat. Ich fahre scheinbar ziellos mit der Bahn quer durch Deutschland und lese dabei ein Buch über einen, der scheinbar ziellos mit der Bahn quer durch Deutschland fährt. Klingt bekloppt, aber ich bin eindeutig nicht der Bekloppteste in diesem Zug. 



Erfurt ist eine der langsamsten Städte Deutschlands. Gefühlt. Die provozierende Trantüdeligkeit, mit der die Menschen durch die Fußgängerzonen schlendern, passt nicht zu einer Großstadt. Die an Arbeitsverweigerung grenzende Verkaufsgeschwindigkeit des Bäckereifachverkäufers macht mich wahnsinnig. Aber Erfurt ist nicht nur langsam, es ist auch verdammt schön. Und die Langsamkeit macht es halt auch noch gemütlicher. Dank Deutschland-Ticket/Straßenbahn stehe ich nur 9 Minuten nach der Ankunft am Bahnhof schon auf dem Fischmarkt in der Altstadt, schlendere über die berühmte Krämerbrücke, genieße die obligatorische Rostbratwurst und gehe noch einkaufen.





Rechtzeitig vor der geplanten Abfahrt des RE29 nach Nürnberg stehe ich auf Gleis 9. Mit 190 km/h wird mich der Zug über die Schnellfahrstrecke katapultieren, erster Zwischenhalt ist nach 33 Minuten und 86 Kilometern Coburg Nord. Das dürfte der größte Stationsabstand aller Regionalzuglinien in Deutschland sein. 

Zwischen Erfurt und Coburg liegt der Thüringer Wald. Der wird von der Schnellfahrstrecke quasi ignoriert: in einer immens teuren Abfolge von langen Tunnels und hohen Brücken hat man den ICEs eine Flachstrecke durch das Mittelgebirge betoniert. Freilich liegt die Luftlinie Berlin - München deutlich weiter östlich, dort man hätte mit deutlich weniger Aufwand eine deutlich schnellere Verbindung schaffen können, aber eine Strecke, die nicht über Erfurt führt, wollte die Thüringer Landespolitik nicht... 

Ich habe genug Zeit, mir über die deutsche Kleinstaaterei Gedanken zu machen, der Zug kommt nämlich nicht. Keine Info, weder in der App noch am Bahnsteig. Wird mir die Bahn schon den ersten von drei schnellen Regionalzügen versemmeln?

Irgendwann kommt doch die Info, dass der Zug 30 Minuten Verspätung hat. Irgendwann kommt er dann tatsächlich. Und um 14:29 Uhr setzt er sich endlich in Bewegung. "Sehr geehrte Fahrgäste, unsere aktuellen Verspätungsminuten betragen zur Zeit 37 Minuten." Das ist die einzige Ansage, die nicht vom Band kommt. Entschuldigung? Fehlanzeige.



Ich habe einen Sitzplatz im Obergeschoss ergattert - der schnelle RE ist die einzige Möglichkeit, die Schnellfahrstrecke durch den Thüringer Wald aus der Vogelperspektive zu erleben. Ein bisschen eng und unbequem sind die Sitze im Desiro HC von Siemens, der Ausklapptisch ist genauso minimalistisch wie die Armlehne, aber ich bin schon schlimmere Züge gefahren. Der rote Renner riecht noch richtig neu. Ein QR-Code auf dem Vordersitz verlinkt zum Infotainmentprogramm samt Nachrichten und Podcasts. Das hat schon fast Fernverkehrsniveau. 

Von Nürnberg bis Coburg fahren die schnellen Regionalzüge stündlich (ab Ebensfeld mit 190 km/h), fünfmal pro Tag fährt einer der schnellen Züge weiter nach Erfurt, und das erst seit Juni 2024. Heute ist der 22. März 2025, das Angebot ist also noch kein Jahr alt - wird aber schon rege in Anspruch genommen, der Zug ist gut gefüllt. 

Die Autos auf der parallel verlaufenden Rennsteigautobahn sind geradezu lächerlich langsam. Mir egal, dass ich fast 40 Minuten Verspätung habe, ich genieße die Raserei - und mein Hörbuch von Jonas Jonasson. Der Thüringer Wald ist zu schön, um ein Buch zu lesen.

 




Die Raserei wird kurz unterbrochen: die Leitstelle ist der Meinung, dass man dem nachfolgenden ICE nicht antun kann, mit 190 km/h hinter dem verspäteten RE herzuschleichen. Also werden wir kurz angehalten und rasant überholt, dann dürfen wir wieder durch den Thüringer Wald rasen.

"Gefährlicher Eingriff in den Eisenbahnverkehr", brüllt der Zugchef. Der Rauchmelder hat angeschlagen, weil ein Depp die Warnung ignoriert und auf der Zugtoilette geraucht hat. Jetzt kriegt der Depp ne Anzeige und mein Zug blockiert die Schnellfahrstrecke, weil der Rauchmelder alle Systeme heruntergefahren hat. "Können Sie den Herrn identifizieren? Dann rufen wir die Polizei und dann fliegt er in Bamberg raus, was solln des!" Der Zugchef brüllt immer noch die Frau an, die er verdächtigt hatte, in der Toilette geraucht zu haben. Aber es war wohl der "kräftige ältere Mann", der vor ihr drin war, sie hat "nur gepinkelt, das schwöre ich!"  Ich kriege das alles mit, weil es sich direkt hinter mir abspielt. Der Rest vom Zug kriegt natürlich 0,0 Informationen außer, dass man von den Türen wegbleiben soll.


Irgendwann geht die Fahrt weiter. Die Navigator App weiß mittlerweile, dass der Zug Nürnberg nie erreichen wird. Da ist die andere Nachricht aus der Navigator App gar nicht mehr so schlimm: der Anschlusszug von Nürnberg nach Ingolstadt fällt eh aus, ich komme eine Stunde später nach Hause als geplant...

"Liebe Fahrgäste, aufgrund eines Polizeieinsatzes wird sich unsere Abfahrt noch verzögern". Der Zug steht in Bamberg und ich kann den Polizeieinsatz direkt vor meinem Fenster beobachten. Tschüß, Depp!

"Liebe Fahrgäste, ich habe gerade gehört, dass dieser Zug nicht weiterfährt. Bitte suchen Sie sich eine andere Verbindung." Das war die ganze Durchsage. Die Informationspolitik der Deutschen Bahn ist mal wieder eine Frechheit. Ich steige also doch aus und bereichere das Chaos auf dem Bahnsteig, verstecke aber das Buch "ein Bulle im Zug" in der Jackentasche, als ich den Polizisten vor mir sehe.

Auf dem Bahnsteig heißt es plötzlich: "nach Forchheim bitte einsteigen." Also fährt er jetzt doch weiter? Ich steige wieder ein in den mittlerweile 62 Minuten verspäteten Zug, setze mich wieder auf meinen Platz. Und fahre in einem leeren Zug weiter nach Forchheim, da ist dann endgültig Ende Gelände. Und zwar so sehr Ende Gelände, dass ich mit einem anderen Zug direkt nach Erlangen weiterfahre. Da gibt es in der Innenstadt eine leckere Kaffeerösterei. Ich hab ja immer noch reichlich Zeit, bis in Nürnberg der nächste nicht-ausfallende Schnell-RE nach Ingolstadt startet. Und ich bin ausreichend müde, um noch einen Kaffee zu vertragen. 



Der Erlanger Espresso war so lecker, dass ich gleich ne Packung mit nach Hause nehme. Und Erlangen ist und bleibt einfach ein schöne, sympathische Stadt.



Der "München-Nürnberg-Express" ist die Mutter aller Schnellfahrstrecken-Regionalzüge: schon beim Bau der Schnellfahrstrecke Ingolstadt - München wurden dort zwei Regionalverkehrshalte (in Allersberg und Kinding) vorgesehen, seit der Eröffnung der Strecke im Jahr 2006 halten dort schnelle Regionalexpresse. Anfangs fuhren auf der Linie 200 km/h schnelle ehemalige IC-Garnituren, später wurden "nur" 190 km/h schnelle (und äußerst unzuverlässige...) Doppelstock-Garnituren von Skoda angeschafft, die ich noch nie gefahren bin. Heute ist es endlich so weit.

Nein, doch nicht, dreifache Enttäuschung beim Umstieg in Nürnberg: 1. Der Zug hat 15 Minuten Verspätung, der Umstieg in Ingolstadt wird also knapp. 2. Es handelt sich um die eine ex-IC-Garnitur, die den unzuverlässigen Skoda-Zügen mittlerweile wieder zur Seite gestellt wurde. 3. Nur einstöckiger Zug heißt: es wird richtig voll. Die Freude, dass ich nach ein paar Wagen doch noch einen Sitzplatz finde, währt nur kurz: der betrunkene Fußballfan neben mir macht erst sein xtes Bier auf, dann packt er seine Gitarre aus. Seine Stadionfreunde drehen ein Handy voll auf, er begleitet auf der Gitarre. "Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen", "der Zug hat keine Bremsen", "ich will Malle zurück". Im Zug ist Stimmung. Dieses musikalische Kulturgut würde es mir verunmöglichen, das Buch weiterzulesen, wenn das nicht schon dadurch verunmöglicht würde, dass ich eine Gitarre vor dem Gesicht hängen habe. 



Wenn ich mir etwas vornehme, dann ziehe ich das auch durch. Auch heute. Deshalb bin ich in Nürnberg nicht auf den direkten RE nach Stuttgart ausgewichen, als klar war, dass der München-Nürnberg-Express eine überfüllte IC-Garnitur ist. Und deshalb lese ich das Buch fertig, obwohl ich deutlich interessantere Bücher und Magazine im Rucksack habe. "Der Bulle im Zug" hat stark angefangen, aber dann auch stark nachgelassen. Ich kann mich nicht mit der Hauptfigur identifizieren, ich habe keine große Freude am Schreibstil, ich verstehe nicht, was die Story mir sagen will. Nach "In einem Zug" von Daniel Glattauer das zweite enttäuschende im Zug spielende Buch in kurzer Zeit. Ich sollte vielleicht Abstand nehmen vom Buchgenre "spielt im Zug".

Immerhin haben mich die zwei Stunden Donautalbahn bei Dunkelheit entscheidend vorangebracht: ich bin jetzt auf Seite 316, weniger als 30 Seiten fehlen noch. Das sollte ich heute noch hinkriegen. Ich bin gerade in Ulm. Am liebsten wäre ich am Nachbargleis in den Nachtzug nach Kroatien eingestiegen. Aber was ich mir vornehme... "Der schnellste Regionalverkehr Deutschlands" ist ja schließlich der Abschlusshöhepunkt meiner 25, pardon, 26 Stunden Deutschland-Rundreise. Auch wenn der Aufdruck auf der Lok gar nicht mehr stimmt: jetzt, wo zwischen Nürnberg und Ingolstadt neben den 190 km/h-Skoda-Garnituren auch wieder eine 200km/h-IC-Garnitur unterwegs ist, hat der RE200 Ulm - Wendlingen sein Alleinstellungsmerkmal verloren. Es ist schon mein zweiter 200km/h-Regionalzug heute und draußen ist es längst dunkel. Trotzdem: ich freue mich wie immer auf die Schnellfahrt über die Schwäbische Alb. Ich schiebe die bequeme Rückenlehne nach hinten, mache es mir im alten IC-Sessel bequem - und widme mich wieder dem Bullen im Zug.


Die Schnellfahrstrecke Wendlingen - Ulm wurde am 11.12.2022 eröffnet. Ich war am Eröffnungstag dabei und werde natürlich nicht vergessen, wie ich zum ersten Mal über die 85 Meter hohe Filstalbrücke gerauscht bin, deren Bau ich in den Jahren davor immer wieder gesehen hatte. Ein beeindruckendes Ingenieursbauwerk, der Höhepunkt der Strecke. Insgesamt 30 Kilometer der 60 Kilometer zwischen Wendlingen und Ulm liegen im Tunnel. Da hätte man auch fast gleich die gesamte Schwäbische Alb untertunneln können... Trotzdem kämpfen sich die Züge bis auf eine Höhe von 746 Metern hinauf - entsprechend oft liegt am einzigen Zwischenhalt, "Merklingen - Schwäbische Alb", Schnee. Heute nicht, der Frühling scheint sich endgültig durchgesetzt zu haben.

Bis nach Wendlingen am Neckar geht es wieder hinab auf 294 Meter Höhe. Hier wechsele ich zum letzten Mal heute den Zug. Der MEX18 bringt mich nun in 13 Minuten zurück nach Esslingen. Der Kreis ist geschlossen, meine eintägige Deutschlandreise ist beendet. Ich habe Elbe und Donau überquert, habe in Thüringen eine Rostbratwurst gegessen und in Bayern eine Brezel, ich bin mit 190km/h über den Thüringer Wald und mit 200km/h über die Schwäbische Alb gerauscht, habe bei 250km/h in der Altmark gefrühstückt. Und auch meine Lesegeschwindigkeit war perfekt: zwischen Plochingen und Esslingen, drei Minuten vor der Ankunft, beende ich das Buch. "Ein Bulle im Zug" ist beendet. Der Markus im Zug hat seine Reise auch beendet.