Auf dem Abfahrtsanzeiger in Stuttgart steht nicht das eigentliche Fahrtziel „Friedrichshafen“, sondern „Crailsheim“. Auf dem Display im Zug, das die nächsten Halte anzeigt, steht nicht „Esslingen“, sondern „Günzburg“. Statt „Göppingen“ wird „Mosbach-Neckarelz“ angezeigt. Kurzum: Ich starte meine Reise nach Italien mit der Deutschen Bahn. Und da wird offenbar nicht nur der Fahrplan gewürfelt. Aber mag der Zug auch überfüllt und verspätet sein, der Schaffner und sein Humor sind großartig.
Ab Ulm bin ich mit seriösen Transportunternehmen unterwegs: Arverio (ex GoAhead) bis München, dann Flixbus nach Rom.
Ich dachte, der Bahnhof Bad Cannstatt zur Wasenzeit ist schlimm. Aber der Münchner Hauptbahnhof zur Wiesnzeit ist schlimmer. Ich bin der einzige Nüchterne im ganzen Bahnhof. Weil auch der zweite Zug Verspätung hatte und es langsam knapp wird mit dem Nachtbus, fahre ich mit der S-Bahn zur Hackerbrücke - und erwische einen alten 420er. Ich liebe diese Züge und ihr Anfahrgeräusch seit meiner Kindheit.
An der Hackerbrücke muss ich fast laut loslachen: die Polizei beschallt die Besoffenen, die von der Theresienwiese herschwanken, mit lauter Musik. Oasis wirkt wohl gegen Aggressionen.
Im Nachtbus habe ich mir einen Platz oben vorne gebucht – da kann man so viele verschiedene Positionen einnehmen, dass sich eine finden lässt, in der man schlafen kann.
Um 7 Uhr wache ich auf, um 7:02 Uhr kommt die Durchsage, dass wir jetzt 10 Minuten Pause am Rasthof machen. 10 Minuten reichen an einem italienischen Autogrill easy für Toilette und Kaffee. Die Toilette ist sauber und kostenlos, der Kaffee ist lecker und halb so teuer wie in Deutschland. Nach nur 2 Minuten bin ich schon wieder schockverliebt in Italien.
Nördlich von Rom stehen wir im Stau. Frecciarossa und Italo rauschen auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke an mir vorbei. Das System Eisenbahn ist dem System Straße einfach deutlich überlegen, aber der Nachtzug nach Rom ist derzeit baustellenbedingt keine Alternative zum Nachtbus...
Eine halbe Stunde später stehe ich nicht mehr im Stau, sondern umfahre ihn über Sträßchen, die noch nie zuvor einen Doppelstockbus gesehen haben. Der Busfahrer kennt sich offenbar aus.
Mit einer halben Stunde Verspätung komme ich in Roma Tiburtina an. Einmal die Knochen durchzählen, dann auf der Bahnhofstoilette Zähne putzen, und dann: Cappuccino und Pistazien-Brioche. Ich bin eigentlich gar nicht müde, aber ich kann unmöglich den ersten Tag in Italien ohne italienischen Cappuccino starten.
Julian kommt mit dem Zug in Roma Termini an. Wir treffen uns auf dem U-Bahnsteig und nutzen die Zeit, bevor auch Michael ankommt, um die relativ neue U-Bahnstrecke nach Jonio zu fahren. Marco wird erst am Abend dazustoßen, dann ist unsere vierköpfige „Bahn Banda“-Gruppe komplett.
Am Endbahnhof Jonio gibt es Wohnblöcke, Spielplätze - und Regen. Wir verschwinden also bald wieder im sehr tief liegenden U-Bahnhof und fahren in die Innenstadt.
Nach dem Mittagessen im empfehlenswerten Mercato Centrale im Bahnhof Termini stürzen sich Michael und ich ins erste Pufferküsser-Erlebnis: wir fahren auf dem letzten verbliebenen Abschnitt der Schmalspurbahn Roma Laziali–Frosinone nach Centocelle. Der „Bahnhof“ Roma Laziali befindet sich neben dem Bahnhof Termini, aber so weit nach hinten versetzt, dass man hier nicht zufällig vorbeikommt. Um den Fahrplanaushang hat sich hier schon länger niemand mehr gekümmert, die Gleise wurden auch schon länger nicht mehr saniert, die Züge sind knapp 40 Jahre alt (es gibt auch ein paar „moderne“, die 1999 gebaut wurden). Der östliche Abschnitt dieser Schmalspurbahn wurde vor ein paar Jahren durch die vollautomatische U-Bahnlinie C ersetzt, der westliche Abschnitt ist noch immer in Betrieb.
Die Fahrt ist ein Erlebnis. Wir sitzen in Motorwagen und merken, was der Lokführer scheinbar nicht merkt: dass er keine Traktion aufs Gleis bringt, wenn er immer nur Vollgas gibt. Der Zug jault und quietscht und rumpelt. Es ist ein tolles Erlebnis - aber wenn man Zeit sparen wöllte, müsste man joggen statt mit dieser Bahn zu fahren.
Highlight der Fahrt ist die Station Porta Maggiore, wo die alte Straßenbahn unter der noch älteren Stadtmauer hält. Theoretisch kann man hier zur normalspurigen Straßenbahn umsteigen – aber aufgrund diverser Baustellen fährt in Rom aktuell keine einzige Straßenbahn.
Am Streckenende laufen wir weiter zur U-Bahn C und fahren den neuen Abschnitt, den es bei meinem letzten Rombesuch noch nicht gab. Danach wollen wir eigentlich mit der Straßenbahn weiter zum Bahnhof Porta S. Paolo, aber es gibt nur den überfüllten Ersatzbus. Wir blicken aus dem Busfenster auf Kolosseum, Circus Maximus und kolossales Verkehrschaos.
An der Porta San Paolo treffen wir Julian wieder, zu dritt geht es nun nach Ostia. Der dortige Strand gehört zu Rom, obwohl er etwa 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt ist. Die Bahnstrecke dorthin ist eine Art oberirdische Überland-U-Bahn. Am Endbahnhof riecht man schon das Meer. Wenn man das Überqueren der vielspurigen Straße überlebt, steht man kurz nach der Ankunft am Strand.
Zurück in der Stadt stelle ich fest: Stadtverkehr Rom ist immer noch die Hölle, da hat sich nichts geändert seit meinen bisherigen Besuchen 2005 bzw. 2017. Aus 30 Minuten geplanter Busfahrt zu unserer Unterkunft werden 70 Minuten… Mit der U-Bahn wären wir also doch deutlich schneller gewesen. Die einzige funktionierende Möglichkeit, zügig das Zentrum von Rom zu queren, ist und bleibt die Metrolinie A – folglich ist die mit 500.000 täglichen Fahrgästen hoffnungslos überlastet. Das dürfen wir am nächsten Morgen erleben. Es wird geschoben und gequetscht, und auf Michaels Bitte, uns doch erstmal aussteigen zu lassen, erfahren wir vom alten Mann, der ganz dringend einsteigen will, die wunderbare Erwiderung „ma non rompe'er cazzo“. Frei übersetzt: Geh mir nicht auf den Sack!
Es ist überraschend, wie wenig Rom funktioniert. Aber dass es irgendwie funktioniert, dass diese Stadt schon seit Jahrzehnten nicht funktioniert. Der öffentliche Nahverkehr ist nur ein Symptom einer viel größeren Krise. Aber eine Millionenstadt ohne funktionierenden öffentlichen Nahverkehr funktioniert einfach nicht. Das interessiert aber scheinbar diejenigen, die das ändern könnten, nicht, weil die mit Blaulicht auf dem Dach am Dauerstau vorbeifahren können.
Vielleicht wird es ja besser, wenn man Rom verlässt und mit der Ferrovia Roma Nord nach Viterbo fährt?
Nein, wird es nicht. Es fängt damit an, dass der Fahrplan ein klassischer (süd)italienischer Un-Fahrplan ist. Es gibt keine durchgehenden Züge mehr von Rom nach Viterbo, man muss in Catalano umsteigen. Der erste Zug des Tages kommt um 11:22 Uhr in Catalano an, der Nicht-Anschlusszug fährt um 11:14 Uhr los. Der nächste Zug fährt um 12:59 Uhr. Bei Abfahrt in Rom um 9:35 Uhr ist man folglich um 14:16 Uhr in Viterbo. Mit dem Auto wäre man minimal schneller: Auf der Straße ist die Strecke 82 Kilometer lang (die Bahnstrecke ist 102 Kilometer lang).
9:35 Uhr ist freilich ein eher theoretischer Wert. Am zweigleisigen Kopfbahnhof startet etwa alle 10 Minuten ein Zug in die Vororte, nur der Zug um 9:35 Uhr ist ein Extraurbano-Expresszug, der bis Catalano durchfährt. Aber welcher Zug ist der Expresszug? Boh. Niemand weiß es. Nichts fährt nach Fahrplan. Die Bahnsteiganzeige und das Schild am Zug widersprechen sich. Um 9:45 Uhr stehen auf beiden Gleisen Züge, beide sehen recht mitgenommen aus. Wir raten zum Glück richtig, welcher davon der Expresszug ist, der um 9:35 Uhr hätte abfahren sollen.
Große Überraschung, als der Zug nach gut zwei Kilometern den Tunnel verlässt: Es wird überhaupt nicht heller. Die Scheiben sind so zugesprayt, dass man kaum rausschauen kann. Aber Glück gehabt: Man kann sie öffnen. Sieht dann erst recht nach Gefängnisfenstern aus mit den Eisen-Querstangen, aber wir können auf die sanften Hügel schauen, über die ich mich 2017 bei brutaler Hitze mit dem Fahrrad gequält habe.
In Castelnuovo kommen wir um 10:40 Uhr an. Um 10:26 Uhr hätten wir abfahren sollen. Egal, die zwei Männer aus dem Führerstand steigen erstmal aus und halten ein Pläuschchen mit dem Fahrdienstleiter. Warten wir auf einen Gegenzug? Nein, sie wollen nur ein bisschen quatschen. Danach geht die Fahrt weiter.
„Un treno così lento, mamma mia“ beschwert sich die einzige Mitreisende in unserem Wagen, eine nette ältere Dame, über die Langsamkeit des Zuges. Wir genießen es, wegen dieser Urigkeit wollten wir ja diese Strecke unbedingt fahren. Für regelmäßige Nutzer muss es schrecklich sein, uns macht es Spaß.
Feigenbäume, Olivenbäume und Steineichen vor dem offenen Fenster, Hügel am Horizont. Die Landschaft ist schön, die kurvenreiche Streckenführung ist schön, das Wetter ist schön. Schön ist auch, dass uns der Fahrplan eine Stadtbesichtigung in Civita Castellana erzwingt. Die kleine Altstadt auf dem Berg - eine der ältesten Städte Italiens - lässt sich schnell erbummeln. Wir besichtigen Dom, Festung und eine sympathische Bäckerei. Auf dem Rückweg zum Bahnhof Catalano machen wir noch einen Espressostopp, dann geht es weiter Richtung Viterbo. Fünf Personen benutzen den Mittagszug: Der Lokführer und wir vier.
Der Zug ist deutlich moderner als der heute Vormittag, Baujahr 2000. Gut gepflegt ist er trotzdem nicht.
Am Bahnhof Vignanello warten die beiden Fahrdienstleiter:innen auf den Höhepunkt des Tages: eine Zugkreuzung! Hoch motiviert kurbelt er Signale und Weichen in die richtige Stellung, sie beäugt kritisch ihn und unseren Zug. Allerdings hat der Gegenzug noch mehr Verspätung als unser Zug, wir warten noch länger und die beiden Bahnbediensteten können wieder weiterratschen.
Allmählich drängt sich der Verdacht auf, dass die 36 Minuten Umstiegszeit in Viterbo knapp bemessen sind. Mit 20 Minuten Verspätung geht es aber schließlich weiter. Noch schnell ein paar Kurbeln drehen, dann können die beiden Bahnangestellten wieder ratschen, erst in knapp 2 Stunden kommt der nächste Zug.
Die Strecke entwickelt sich jetzt zu einer kleinen Gebirgsstrecke. Der Zug schraubt sich immer weiter aufwärts und zeigt uns das Castello Orsini in Soriano nel Cimino von mehreren Seiten. Haselnussbäume, Olivenbäume, diverse Sträucher - und zur Rechten der Blick hinab ins Tibertal und hinüber zum schemenhaft erkennbaren Apennin.
Ziemlich genau fünf Stunden nach der Abfahrt am Prellbock in Rom kommen wir am Prellbock in Viterbo an. 102 Kilometer in 5 Stunden - das habe ich mit dem Fahrrad auch schon geschafft.
Verspätungsbedingt haben wir keine Zeit, einen Blick hinter die Stadtmauer zu werfen und laufen direkt zum benachbarten Trenitalia-Bahnhof. Da steht schon die Sandwichgarnitur - zwei Waggons hängen zwischen zwei Lokomotiven - Richtung Orte bereit. Wie auf einem anderen Planeten fahren wir jetzt mit einem komfortablen, ruhigen, aber zügig dahingleitenden Zug. Ein seriöses Verkehrsmittel, nicht mehr wie die Bummelbahn vorhin ein Sozialprojekt, das ein paar Arbeitsplätze im ländlichen Raum schafft, aber kaum verkehrlichen Nutzen hat.
Mit einer der drei Linien aus dem Rolltreppen-Netzplan von Spoleto fahren wir hinauf zur Festung und genießen die Aussicht auf die schöne Stadt und ihre waldreiche Umgebung. Nach der obligatorischen Dombesichtigung genießen wir – wie auch schon gestern in Rom – ein außerordentlich leckeres Abendessen. Panzanella, Tonnarelli Caccio e Pepe, Stringozzi al Tartufo… der Gaumen freut sich.
Italien pur: Marco fragt im Hotel nach einer Nummer vom Taxidienst – nicht für heute, aber er möchte nach unserer gemeinsamen Reise seine umbrische Verwandtschaft besuchen. Man gibt ihm nicht die offizielle Telefonnummer der Taxizentrale, sondern die Nummer eines „zuverlässigen“ Taxifahrers.
Tag 3 starten wir mit dem ersten richtigen Frühstück der Reise - und mit dem Frecciargento. Dieser „Pendolino“ ist zwar teuer, aber nicht sonderlich gut verarbeitet. „Highlight“ ist die überklebte Fensterscheibe… In Terni steigen wir vom Hochgeschwindigkeitszug in einen alten FIAT-Dieseltriebwagen um. Die erste Etappe im alten FIAT führt uns durch schöne Landschaft, mit Apennin im Hintergrund, nach Rieti. Dort machen wir Pause für eine zweistündige Stadtbesichtigung. Als es anfängt zu regnen, flüchten wir uns in eine Cioccollateria - und kommen mit vollen Rucksäcken voller Schokolade und Pralinen wieder raus. Rieti ist sehr schön und beherbergt immerhin einen sehenswerten Bischofspalast und den Mittelpunkt Italiens.
Die Bahnhofsbar hat am Samstagnachmittag geschlossen, den nächsten Kaffee gibt es also erst in L'Aquila. Dorthin geht es wieder mit einem altmodisch-bequemen FIAT-Triebwagen. Marco erklärt dem Lokführer, dass wir Bahnbegeisterte sind und fragt, ob wir vom Führerstand Fotos und Videos machen dürfen. Dürfen wir. Und so fotografieren wir auch, wie der Lokführer gleichzeitig den Zug steuert, mit Marco über die Antriebstechnik seines Triebwagens fachsimpelt und auf dem Handy Schach spielt.
L'Aquila liegt auf mehr als 700 Metern Seehöhe, entsprechend schraubt sich die Bahnstrecke die Abruzzen hinauf. Das Wetter lässt zu wünschen übrig, aber die Landschaft ist großartig.
Einst war L'Aquila aufgrund seines Kulturlebens als „Salzburg der Abruzzen“ bekannt, heute ist es vor allem aufgrund des Erdbebens von 2009 bekannt. Die nach dem Erdbeben gebauten Neubausiedlungen stehen weit außerhalb, die Altstadt hingegen ist immer noch nicht wieder aufgebaut. Die Mischung aus zerfallenen Gebäuden und schön sanierten/wiederaufgebauten Gebäuden ist für uns Touristen spannend. Für die Einheimischen muss es schrecklich sein, dass sich ein paar Mafiosi bereichert haben, aber ihre Wohnungen nach 15 Jahren immer noch nicht wieder aufgebaut sind.
Mein Schrittzähler meldet 18.000, als wir um 18 Uhr die Weiterfahrt nach Sulmona starten. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten von L'Aquila habe ich abgeklappert, zwischendurch habe ich am Domplatz ein leckeres Eis und einen unfassbar leckeren Käse-Panino gegessen. Jetzt fahren wir - diesmal in einem modernen Pesa-Triebwagen, Trenitalia nennt ihn „Swing“ - durch die schöne Bergwelt der Abruzzen ins Abendlicht.
Als wir in Sulmona ankommen, ist es schon dunkel. Unsere netten Vermieter von der „Casa del Ferroviere“ holen uns am Bahnhof ab und ersparen uns die zwei Kilometer Fußweg ins Zentrum (früher gab es mal eine Straßenbahn...). Sulmona ist ein Traum von einer Stadt. Wir essen mal wieder vorzüglich und genießen bis kurz vor Mitternacht das Sehen und gesehen werden am Corso.
Nach dem obligatorischen Frühstück in der Bar marschieren wir am Sonntagmorgen zum Bahnhof. Und kommen uns am Bahnsteig ganz schön jung vor: Die Zuggarnitur stammt aus den 1930ern, die meisten anderen Fahrgäste sind nicht so viel jünger als der Zug. Alle gemeinsam freuen wir uns auf die Schienenkreuzfahrt nach Castel di Sangro. Seit ein Journalist hier in den 80er Jahren mal in einem Schneesturm steckengeblieben ist, nennt man die Strecke die „Transsiberiana d'Italia“, die Transsibirische Eisenbahn Italiens. Der reguläre Personenverkehr wurde 2011 eingestellt, wenn man die schöne Strecke erleben will, muss man (teure) Tickets für den Sonderzug der Fondazione FS kaufen. Der fährt nur Sonntags und nur einmal am Tag, man bucht ein Paket samt Stadtführung und Museumsbesuch. On top gibt es noch weitere Touristenbespaßung wie die zünftige Livemusik am Bahnsteig kurz vor der Abfahrt. Die Organisation samt Check-In ist topp, überhaupt ist der gesamte Bahnhof von Sulmona samt Umfeld perfekt gepflegt. Man sieht den italienischen Bahnhöfen an, dass Italien mehr Geld in seine Eisenbahninfrastruktur investiert als Deutschland...
Um 9:34 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. Sulmona betrachten wir noch von den Holzsitzen aus, aber bald wird die Landschaft so beeindruckend schön, dass Julian und ich mit unseren Kameras von Fenster zu Fenster laufen, um immer die schönsten Ausblicke einzufangen. Wir fotografieren Kalkfelsen, Steineichen und Viadukte, über die wir schon gefahren sind oder über die wir noch fahren werden. In weiten Schleifen kämpft sich der Zug viele Höhenmeter hinauf. Auf 1.269 Metern über dem Meer werden wir später den zweithöchsten Bahnhof des italienischen Bahnnetzes erreichen, Rivisondoli Pescocostanzo. Der höchste ist der Brenner (1.370 m.ü.M.).
Noch davor halten wir in Palena, und zwar 40 Minuten lang. 400 Fahrgäste fluten den Bahnsteig und die dort aufgebauten Stände. Arrosticini vom Grill, Holzfiguren, Honig, Backwaren - es gibt nichts, was es nicht gibt. Was für eine herrliche Kaffeefahrt. Der wöchentliche Touristenzug hat einen belebenden Effekt für die lokale Wirtschaft in dieser sehr dünn besiedelten Region.
Mit vollem Bauch fahren wir weiter, blicken auf Berge und Skilifte, rattern über Viadukte und durch Tunnels. Gegen 13 Uhr kommen wir schließlich in Castel di Sangro an. Natürlich gibt's erstmal einen Espresso in der Bahnhofsbar, dann spazieren wir in die Stadt. Um 14:40 Uhr ist der Treffpunkt für die gebuchte Stadtführung, da geht sich vorher noch ein Besuch in der Osteria am Hauptplatz aus. Die mit Linsen gefüllten Ravioli mit Brokkoli schmecken sehr gut. Natürlich gibt es danach noch einen Espresso.
Am Bahnhof hat uns ein Abfahrtsplan überrascht: weil die Strecke aus Sulmona nie offiziell stillgelegt wurde, fährt zweimal täglich ein Ersatzbus. Ich entscheide mich, mit dem Bus zurückzufahren: die Bahnstrecke kenne ich jetzt ja, und Geographen fahren nie den selben Weg zurück.
Der „Bus“ ist ein Mercedes Sprinter. Und weil die Tür auf der rechten Seite kaputt ist, müssen alle über den Fahrersitz einsteigen. Alle heißt: fünf andere und ich. Der Bus ist flott unterwegs: wo 50 erlaubt ist, fährt er 90. Wo 30 erlaubt ist, fährt er 55. Trotzdem kommt er - nach pünktlicher Abfahrt - nur 4 Minuten zu früh in Sulmona an, mit legalen Mitteln wäre der Fahrplan also nicht haltbar.
In Sulmona nutze ich das verbleibende Tageslicht, um im großen Bogen in und durch die Stadt zu laufen. Unterwegs entdecke ich u.a. eine alte Drehscheibe und die große Konfetti-Fabrik, für die Sulmona bekannt ist. Der Versuch, den historischen Zug zu fotografieren, mit dem die anderen drei zurückfahren, gelingt mit dem Handy nicht ganz perfekt.
Was zu Essen kriegen wir erst beim Umstieg in Pescara. Mittlerweile ist die Sonne aufgegangen und strahlt die Adria an. Ich hatte gar nicht mehr auf dem Schirm, dass wir für den Frecciarossa entlang der Adriaküste einen Sparpreis 1. Klasse gebucht hatten. Das heißt: richtig bequeme Einzel-Ledersessel mit elektrisch verstellbarer Rückenlehne, Snackbox und Getränke aufs Haus.
Der Frecciarossa sammelt bis Bologna genau 31 Minuten Verspätung - was bei 37 Minuten Umstiegszeit kein Problem ist, aber bedeutet, dass wir 25 % vom Fahrpreis zurückbekommen. Glück gehabt. Ein paar Klicks in der Trenitalia-App – und noch bevor wir Bologna wieder verlassen, ist das Geld (in Form eines Gutscheins) zurück. Die Italienische Bahn beeindruckt mich immer wieder.
Weiter geht's auf Gleis 8 – meine erste Fahrt mit einem Railjet 2. Erster Eindruck: sehr positiv. Deutlich bequemer als die alten Railjets. Fußstützen, Handyhalter, und viele durchdachte Details. Etwas geschrumpft, aber zum Glück noch vorhanden ist der Speisewagen. So genießen wir in der Poebene „Wiener Bio-Berglinsen Asia“.
Die Kaffeepause in Bozen macht richtig Spaß. Und das Wetter spielt auch mit. Ich habe absolut keine Lust, nach Norden weiterzufahren... Aber hilft nichts, ich muss morgen ins Büro. Also um 16:34 Uhr in den Railjet nach München, von da mit dem ICE nach Stuttgart – und wieder aufs falsche Pferd gesetzt: Weil zwischen Stuttgart und Esslingen mal wieder Chaos herrscht und die Echtzeitangaben falsch sind, dauert es noch, bis ich endlich mit einem nach Cannstätter Wasen stinkenden MEX nach Hause komme. In Ulm auf den RE umsteigen wäre doch die bessere Wahl gewesen...
Sei es drum: Gut 16,5 Stunden nach dem Start in den Abruzzen komme ich zu Hause an. Ein sehr langer Bahntag geht zu Ende, und mit ihm eine wunderschöne fünftägige Italienreise. Aus nur zwei Überstundenausgleichstagen habe ich wahrscheinlich noch nie so viel rausgeholt. Ich werde das leckere Essen vermissen. Und die Italienische Bahn…