Ich wache vor dem Wecker auf, schaue aufs Handy und sehe die Push-Meldung der Deutschen Bahn, dass mein Zug heute von einem anderen Gleis fährt. Wenn man auf die Meldung draufklickt, sieht man, dass der Zug nicht nur von einem anderen Gleis, sondern auch 40 Minuten zu spät fährt. Das würde bedeuten, dass ich (wegen verpasstem Anschlusszug) die Wanderung auf den höchsten Gipfel von Brandenburg erst zwei Stunden später starten könnte, was wiederum bedeuten würde, dass ich heute nicht mehr nach Hause kommen würde.
Gestern Abend dachte ich mir schon: mal schauen, ob morgen überhaupt noch Züge fahren, nachdem es hier in Berlin den ganzen Tag geschneit hat. Meine Vorahnung war leider nicht ganz falsch... aber es fahren Züge. Statt über Senftenberg kann ich über Elsterwerda fahren. Dafür muss ich mich schnell anziehen und schnell packen, auf Frühstück verzichten und um 7.40 Uhr die Wohnung verlassen.
Kurz nach dem Loslaufen höre ich, wie auf der anderen Straßenseite eine Autofahrerin einen Radfahrer beschimpft. Die Eisenbahn ist das sicherste aller Verkehrsmittel. Aber man muss erstmal sicher zum Bahnhof kommen: Die "du Hurensohn, du Hurensohn!" brüllende Autofahrerin verfolgt den Radfahrer mit Vollgas auf den Gehweg, auf dem ich laufe. Ich brülle ihr sowas entgegen wie "Hey, das ist ein Gehweg!". Sie bleibt zum Glück stehen, der Radfahrer hat sich schon in Sicherheit gebracht.
Ich laufe weiter Richtung
S-Bahnhof Wollankstraße. Im Weggehen mache ich ein Foto vom wütenden Mercedes, das ich von der S-Bahn
aus der Polizei schicken werde. Über 3.000 Menschen sterben jedes Jahr im
deutschen Straßenverkehr. Es regt mich tierisch auf, dass dieser tägliche Wahnsinn medial fast keine Rolle spielt. Würde über solche Vorfälle wie den gerade eben in den Medien
berichtet, hätte das deutsche Volk ein besseres Verständnis davon, was wirklich
gefährlich ist: Autos, nicht Ausländer.
Die S-Bahn hat 7 Minuten Verspätung, ist aber kein Problem, weil der
Anschlusszug auch Verspätung hat. Bei Scoom am Bahnhof Südkreuz hole ich mir
ein Frühstück und amüsiere mich über "Mango Nr. 5", dann geht es
runter zu Gleis 5. Ich freue mich auf den IC Richtung Dresden (den man bis
Elsterwerda mit dem Deutschlandticket nutzen darf). Es handelt sich um einen der
bequemen Doppelstock-Triebzüge, die die Deutsche Bahn einst von der Westbahn
kaufte. Die spurtstarken bequemen Züge mit Kaffeeautomat in jedem Wagen und
Lounge-Bereichen sind eigentlich viel zu cool für die Deutsche Bahn. Nur
konsequent also, dass die Züge wieder verkauft werden sollen. Statt der bequemen 200
km/h schnellen Stadler-Doppelstock-ICs fahren zwischen Rostock und Dresden bald 160 km/h schnelle
unbequeme Bombardier-Doppelstock-ICs...
Ich lese im Buch "Pünktlich wie die Deutsche Bahn" von Johann-Günther König, wie Hitler die Reichsbahn einst zwang, Autobahnen zu bauen. Die Bevorzugung des Automobils gegenüber der Bahn ist in Deutschland kein neues Phänomen... Leider muss ich das Buch bald zuklappen, weil wir schon in Elsterwerda sind.
Ich steige vom IC in einen "Haifisch" (Siemens Mireo) um. Der Zug ist bequem ist ziemlich leer. Am Zwischenhalt Lauchhammer fallen mir die alten Gardinen am alten Bahnhofsgebäude auf, hier ist alles etwas in die Jahre gekommen. Ich erinnere mich, dass ich hier in der Nähe vor einigen Jahren bei einer Radreise durch die Lausitz ein altes Braunkohlekraftwerk besichtigt hatte. Die Führerin konnte überhaupt nicht nachvollziehen, warum das Kraftwerk nach der Wende stillgelegt wurde. Energieeffizienz und Luftqualität waren in der DDR nicht die entscheidenden Parameter. Heute sind sie wichtiger und die Lausitz, dieser Hidden Champion unter den deutschen Urlaubsregionen, hat eine harte Zeit hinter sich - und sicherlich auch noch vor sich. Was mir Hoffnung macht: der Schriftzug "für die AfD" auf dem Bahnhofsgebäude wurde von einen Schriftzug "FCK AfD" übermalt. Die Demokratie lebt noch, auch in Lauchhammer.
Der nächste Halt heißt Ruhland. Die Diesellok auf dem Nachbargleis kann 5.400 Liter tanken, die Plakette weist für den Kraftstofftank die Gefahrenklasse A III aus. Auf den Displays auf dem Bahnsteig wird vor Eis- und Schneeglätte gewarnt, sämtliche Fenster am Bahnhofsgebäude sind verrammelt. Ein einziger Mensch ist draußen unterwegs und beißt in eine Schnitzelsemmel. Lärmstadt ist woanders, hier ist Ruhland. Ich fahre dem Anschlusszug nach Senftenberg entgegen, nichts lockt mich 30 Minuten in die Ruhländer Kälte.
"Herzlich willkommen im anerkannten Erholungsort Senftenberg", begrüßt mich eine Tafel in der Bahnhofshalle. Als wichtigste Sehenswürdigkeit wird die Landmarke "Rostiger Nagel" empfohlen. Wandgemälde verweisen auf den Tierpark Senftenberg und "Senftenberg am See". Der Senftenberger See ist sozusagen das Original, er hat schon 1967-1972 einen früheren Tagebau geflutet. In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind in der Lausitz viele weitere große Seen entstanden. Ein längerer Aufenthalt hier lohnt nicht nur deshalb, sondern auch wegen der Industriekultur (Stichwort F60) und den schönen Radwegen. Wie gesagt, Hidden Champion. Auf dem Bahnhofsvorplatz hängen Wahlplakate der Linken und der CDU. Es könnte schlimmer sein.
Mein RE kommt pünktlich in Ortrand an. Noch so ein lustiger Ortsname. Jetzt wird gewandert, und zwar auf den Kutschenberg, den höchsten Gipfel von Brandenburg. Nummer 12 von 16 in meinem 16summits-Projekt. Zuerst muss ich durch den Ort. Alle entgegenkommenden Autofahrer schauen mich kritisch an. Überrascht mich nicht mehr, kenne ich schon von meiner Wanderung auf den höchsten Gipfel von Mecklenburg-Vorpommern.
"Alwin Thiele, Schmiede- und geprüfter Hufbeschlagmeister" steht auf einer Hausfassade. Es gab also eine Zeit, bevor der halbe Ort samt Ortsmitte ein Autoparkplatz war.
Unter der Autobahn durch erreiche ich mit Kleinkmehlen die nächste Siedlung. Am schneebehangenen Ortsschild wird vor der Afrikanischen Schweinepest gewarnt, ich wandere nun durch eine Sperrzone.
Der Kutschenberg ist wohl der deutscheste aller 16 Bundesländer-Gipfel: Man hört die ganze Zeit die Autobahn; es gibt eine Autocrossstrecke, die so heißt wie der Berg; am Fuß des Gipfels stehen Datschen mit eingezäunten Vorgärten. Am Ende der Datschensiedlung lande ich vor einem geschlossenen Tor. Soll ich ausgerechnet vor dem höchsten Berg Brandenburgs scheitern? Ist er im Winter aus Naturschutzgründen gesperrt? Nein, der Durchgang ist erlaubt. Aber man soll tote Wildschweine meiden. Ich bin unentschlossen, vor welcher Begegnung ich mehr Angst haben soll: vor der mit einem toten Wildschwein, oder vor der mit einem lebenden.
Direkt nach dem Tor beginnt der 300m lange Schlussanstieg. Der Kutschenberg ist beschildert. Der Schnee wird tiefer, der Anstieg wird steiler, aber ist letztlich völlig problemlos.
Am höchsten Punkt steht seit Anno Domini 2000 ein beschrifteter Stein. "Kutschenberg 201 m ü NHN". Ich wusste nicht, dass NHN schon 1993 NN ersetzt hat. Normalhöhennull. Das Wort gefällt mir. Man könnte es auch als Beleidigung verwenden für unterdurchschnittlich begabte Menschen aus Küstenregionen.
Ich stehe nur kurz auf dem einzigen Zweinhunderter Brandenburgs. Durch die
verschneiten Bäume erahnt man höhere Gipfel - die liegen aber alle schon in
Sachsen. Ich steige sehr steil und sehr rutschig nach Westen ab - und lande bei
der Skihütte. Die wurde 2003 saniert, ist aber offenkundig schon länger nicht
mehr in Betrieb. Anders als beim Auf- und Abstieg auf den Kutschenberg, den
seit dem letzten Schneefall außer mir nur Rehe und Hasen zurückgelegt haben,
treffe ich an der Skihütte wieder auf menschliche Fußspuren und auf einen
breiteren Weg. Der bringt mich zurück zur Motocross-Datschensiedlung. Gemütlich
wandere ich zurück nach Ortrand, wo ich die Wanderung nach knapp zwei Stunden
am Ausgangspunkt wieder beende. Ich sehe, dass man in dem alten Bahnwagen auf
dem Bahnhofsvorplatz ("Kulturbahnhof") übernachten kann. Falls ich
ein weiteres Mal auf den Kutschenberg wandern möchte, weiß ich, wo ich übernachten
werde.
"Werte Reisende, dieser Zug endet NICHT in Großenhain Cottbusser Bahnhof,
dieser Zug fährt weiter nach Dresden-Neustadt". Die Deutsche Bahn und ihre
gestörten Zugzielanzeiger haben mich wieder.
Umstieg in Priestewitz. Der RE nach Leipzig kommt drei Minuten vor der
planmäßigen Abfahrt an, aber er öffnet die Türen nicht. Viele verwunderte
Gesichter am Bahnsteig. Ich gehe zur Spitze des Steuerwagens und versuche,
Blickkontakt mit dem Lokführer aufzunehmen. Er öffnet das Fenster. Ich frage
vorsichtig: "Könnten Sie vielleicht die Türen freigeben?". Er lacht
mir sächsisch freundlich entgegen: "Uh, Tschuldigung. Ich habe mich schon
gewundert". Ein wunderbarer Moment, den man nur erlebt, wenn man mit der
Bahn unterwegs ist.
Ich zeige dem Schaffner auf dem Handy mein Deutschlandticket. Er schaut mich
auffordernd an, wie wenn ich gerade vom Mond gekommen und in ein falsches
Raumschiff gestiegen wäre. Ich schaue fragend zurück. "Den Ausweis!"
fordert er, wie wenn das bei jeder Fahrkartenkontrolle selbstverständlich wäre.
Nein, das ist es nur in Sachsen! Ich weiß nicht, ob das etwas mit
Pioniereisenbahnausbildung und sozialistischer Pflichterfüllung zu tun hat,
aber ich gerate immer nur in Sachsen an so 120% korrekte Schaffner, die denken,
dass ich mein Handyticket (also das Handy) geklaut habe. In Baden-Württemberg
musste ich noch nie zum Deutschlandticket meinen Ausweis dazuzeigen. Aber er
hat ja Recht, die Beförderungsbestimmungen sind auf seiner Seite. Endlich finde
ich den Geldbeutel, die Reise im Raumschiff kann weitergehen.
Ab Leipzig fahre ich mit dem schnellen ICE nach Stuttgart zurück. Aber wenn ich schonmal an einem
Werktag in Leipzig bin... dann kann ich auch endlich die beiden
Straßenbahnstrecken nach Grünau Nord und Grünau Süd abklappern - sie werden am Wochenende selten bedient, deshalb ist mir die Netz-Komplettierung beim letzten Besuch nicht gelungen. Jetzt war ich nicht nur auf 12 von 16 höchsten Gipfeln, ich bin auch 47 von 64 Straßenbahnnetzen in Deutschland komplett abgefahren.