Bozen - Brenner
Italien, Österreich, Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien. So lautet der Plan für die ersten 25 Urlaubsstunden. Abfahrt in Bozen am Samstag um 6:01 Uhr, Ankunft in Sibiu am Sonntag um 7:25 Uhr. Ungefähr 30 Minuten lang hat der Plan gut funktioniert. Dann steht der Zug schon wieder irgendwo zwischen Klausen und Brixen im Baustellenbereich. Sieben Minuten beträgt die Umstiegszeit am Brenner, zwölf Minuten die aktuelle Verspätung. „Das ist nicht wie bei euch, dass der Anschlusszug wartet.“ Mit „euch“ meint der Schaffner uns Bundesdeutsche. Er ist offensichtlich noch nicht oft in Deutschland Zug gefahren, sonst wüsste er, dass das Warten auf Anschlusszüge dort auch keine Selbstverständlichkeit ist… „Sie werden vielleicht sagen, dass das der erste Zug ist, der in Bozen startet.“ Ja, genau das wollte ich sagen. Wenn mir die elektronische Reiseauskunft diese Verbindung anzeigt, und es keinen früheren Zug von Bozen zum Brenner gibt, dann muss ich mich auf den Anschluss doch verlassen können – oder erwartet Trenitalia, dass man bereits am Vorabend zum Brenner fährt, wenn man den morgendlichen Anschlusszug nach Innsbruck erreichen will?
Verzweifelt deute ich auf meinen großen Rucksack und erkläre dem Schaffner, dass ich in Innsbruck den Anschlusszug nach Budapest erreichen muss. Und frage, ob er denn keine Möglichkeit hat, den ÖBB-Zug am Brenner telefonisch zu erreichen. Hat er (was mich Bundesdeutschen sehr überrascht – in Deutschland haben die Schaffner der Deutschen Bahn angeblich immer keine Möglichkeit, die Privatbahn zu bitten, dass sie auf den Anschlusszug warten soll). Er wird sich in Sterzing bei der ÖBB melden, bis dahin kann er besser abschätzen, wie viel Verspätung wir am Brenner wirklich haben werden. Wow. Kommunikation zwischen unterschiedlichen Staatsbahnen im Dienste des Kunden. Mein Puls ist trotzdem deutlich erhöht, in Gedanken und auf dem Smartphone spiele ich verschiedene Alternativen durch, von Taxi nach Steinach bis Ankunft in Budapest 2 Stunden später (was ziemlich eng wäre für den weiteren Anschluss nach Rumänien und was hieße, dass ich ein neues Ticket kaufen muss).
Ankunft am Brenner um 7:32 Uhr. Der Anschlusszug hätte um 7:28 Uhr losfahren sollen. Die Ankündigung in Gossensaß war richtig – er hat wirklich gewartet! An der Spitze einer mittelgroßen Reisegruppe mit großem Gepäck eile ich zum am gleichen Bahnsteig bereitstehenden ÖBB-Zug. Überrascht über die Kälte (ich sehe meinen Atem! Am 22. August!), aber erleichtert, dass der Umstieg funktioniert. Alle, die aus dem Bozen-Zug kommen, wollen weiter Richtung Innsbruck, ob Student, Wochenend-Pendler oder Flüchtling aus Eritrea. Was will man auch um 7:32 Uhr am Brenner? Das Outlet Center hat noch zu, viel mehr gibt es hier oben nicht mehr. Um 7:33 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung, bis Innsbruck wird er die 5 Minuten Verspätung wieder eingeholt haben. Der österreichische Schaffner lächelt freundlich, als ich mich dafür bedanke, dass er auf uns gewartet hat. Er knipst mein Ticket, auf dem ganz deutlich „Zugbindung“ steht. Ich werde den Zug, an den ich gebunden bin, in Innsbruck erreichen.
Innsbruck - Wien
Wien wächst. Überall Neubauten, Baugebiete, Bauerwartungsgebiet. Rund um den neuen Hauptbahnhof stehen schon ein paar moderne Glaspaläste, weitere werden in den nächsten Jahren dazukommen. Die Fahrt von Innsbruck nach Wien im Railjet war relativ bequem und sehr flott. Am meisten mag ich am Railjet – neben dem auffallend ruhigen Lauf der Wagen – die Displays, auf denen ab und an auf Luftbildern die aktuelle Position des Zuges dargestellt wird. Die fehlenden Fußstützen sind auf einer 4 ½-stündigen Fahrt schon schade – vor allem wenn man bedenkt, dass in Österreich die meisten Regionalzüge über diesen angenehmen Luxus verfügen. Aber sonst kein Grund zur Beschwerde. Da der schnellste Weg von Innsbruck nach Salzburg durch Deutschland führt, fahren die Railjets als „Korridorzüge“ durch das „Deutsche Eck“, freilich ohne Zwischenhalt und in Rosenheim sogar auf einer eigens für die ÖBB-Züge gebauten Verbindungskurve, die einen ansonsten nötigen Fahrtrichtungswechsel erspart. Inn, Bauernhöfe, Chiemsee, Kampenwand, Salzach, und schon ist man wieder in Österreich. In Salzburg wird der Zugteil aus München angehängt, in den ich in Wien dann umsteigen muss, um – von Wien an gemeinsam mit Svenja – weiter Richtung Budapest fahren zu können. Vorbei an Weltstädten wie Seekirchen/Wallersee und Attnang-Puchheim rollt der Railjet Richtung Linz. Ab dort geht es dann mit Vollgas über die „Neue Westbahn“ in nur 1 Stunde 15 Minuten nach Wien. Statt Wienerwald sieht man nurmehr Tunnelwand, aber man muss auch Opfer bringen dafür, dass man am Spätnachmittag schon in Budapest sein kann.
Wien - Budapest
16:49 Uhr. Ankunft in Budapest auf die Minute pünktlich. Der Railjet war relativ voll und die Klimaanlage ein wenig überfordert, aber immerhin schickt die ÖBB ihren Premiumzug bis nach Budapest (und nach Prag). Ein ICE nach Warschau oder Prag? Eine ungewöhnliche Vorstellung. Während es die österreichischen Firmen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sehr schnell verstanden haben, ihren Einflussbereich auf das Gebiet der gesamten früheren Donaumonarchie auszudehnen, sodass auf dem gesamten Balkan die nächste Billa-Filiale und der nächsten Raiffeisen-Bankomat meist nicht weit entfernt sind, endete der Expansionsdrang der meisten westdeutschen Unternehmen erstmal in Leipzig und Dresden. Während der Wiener Flughafen zum Drehkreuz für den Flugverkehr nach Osteuropa ausgebaut wurde, ist der Berliner Flughafen, für den diese Rolle ursprünglich angedacht war, naja, reden wir besser nicht drüber.
Auf der Strecke Wien – Budapest hat man genug Zeit, sich über solche Dinge Gedanken zu machen, die Strecke ist vorsichtig ausgedrückt nicht die schönste Europas. Für mich persönlich natürlich teilweise spannend, weil ich manche Orte von meiner Donau-Radreise vor sechs Jahren wiedererkannt habe. Aber objektiv betrachtet beginnt die Langeweile schon kurz nach der Wiener Stadtgrenze. Auf einen Getreidespeicher irgendwo in der Pampa hat jemand „Hotel“ geschrieben. Oder ist das tatsächlich ein Hotel? Unsinn, warum sollte man hier ein Hotel bauen. Andererseits: warum sollte man hier ein Einfamilienhaus bauen? Und die Gegend ist voll von neugebauten Einfamilienhäusern. Monotone Siedlungen mit den immer gleichen Baukasten-Fertighäusern, in denen junge Familien ihren total individuellen Lebensmittelpunkt gefunden haben. Man muss ja nicht immer alles nachvollziehen können.
Budapest
Mein Lieblings-Fotomotiv in gut zwei Stunden Budapest war der Trabbi mit der Halterung für ein Navigationsgerät. Wobei die alten Ikarus-Obusse natürlich auch ganz nett waren. Oder die Hochzeitsgesellschaft, die unerwartet aus der Kirche kam, vor der wir mal kurz die Rucksäcke absetzen wollten. Das Jugendstil-Toilettenhäuschen. Das leckere Abendessen im Freien. Das schöne Empfangsgebäude des Keleti-Bahnhofs. In nur zwei Stunden viel Schönes gesehen. Und Erschreckendes: Regelrechte Flüchtlingsmassen direkt vor dem Bahnhof, die auf Schlafsäcken und Decken in der Zwischenebene zum U-Bahnhof liegen, die vor den geschlossenen Türen der Notaufnahme warten, die auf dem Bahnhofsvorplatz sitzen (wir können noch nicht ahnen, dass diese Flüchtlinge und der Budapester Ostbahnhof in den nächsten Tagen große mediale Aufmerksamkeit erlangen werden und die ÖBB den Railjet-Verkehr nach Budapest einstellen wird). Flüchtlinge werden uns auf unserer Reise wohl noch häufiger begegnen, gewissermaßen fahren wir bis nach Istanbul gegen den Strom. Wie beschämend ist doch der Umgang mit ihnen in unserem ach so tollen Heimatland, dass mit seiner Außenpolitik nicht ganz unschuldig daran ist, dass so viele Menschen überhaupt ihre Heimat verlassen müssen, und jetzt nicht in der Lage ist, den Flüchtlingen Unterkünfte zur Verfügung stellen, wo sie das Nötigste zum (Über-)Leben kriegen und nicht von rechten Unmenschen angepöbelt und angegriffen werden. Dass die Situation der Flüchtlinge hier in Ungarn noch schlimmer ist als in Deutschland kann da kein Trost sein. Wenige Tage vor der Abreise habe ich die vielleicht irgendwann als „legendär“ zu bezeichnende Maischberger-Debatte gesehen, wo Til Schwaiger dem BeScheuerten Generalsekretär der CSU erklären musste, was in Zeiten wie diesen Aufgabe der deutschen Politik sein sollte. Das Thema wird uns und die deutschen Medien in den nächsten Wochen weiter begleiten.
Budapest - Sibiu
Die Sonne ist untergegangen, der Regen hat aufgehört, es ist dunkel, das Fenster ist zu. In einem Sechser-Liegeabteil mit zwei anderen Deutschen und zwei Ungarn verbringen wir die Nachtreise nach Rumänien. Wenn wir in 2 Stunden die Grenze überqueren, dann ist das schon das fünfte Land innerhalb von 17 Stunden. Seit der Abfahrt in Budapest fühlt sich die Reise so richtig nach Urlaub an. Hier ist nichts mehr „normal“. Der moderne Railjet liegt hinter uns, die gute alte Eisenbahn hat uns sofort in ihren Bann gezogen. Am offenen Gangfenster stehen, den Kopf in den Wind strecken, die Budapester Vororte fotografieren, verschiedene Sprachen aufschnappen. Das offene Fenster ist besser als jede Klimaanlage, vor allem besser als die Klimaanlage im letzten Railjet. Das gemütliche Rütteln des Waggons über die nicht verschweißten Gleise wird uns sanft in den Schlaf befördern, der zweimal – vom ungarischen Zöllner und von der rumänischen Zöllnerin – unterbrochen wird. Nach ungarischer Zeit werden wir schon um 5:25 Uhr aussteigen müssen, also Zeit zum Schlafen.
Sibiu
Sibiu, das früher Hermannstadt hieß, begrüßt uns mit Obdachlosen in der Bahnhofshalle und Kunstblumen an der Bahnhofstoilette. Um 7:15 Uhr wechseln in der Bahnhofshalle die Schalterbesetzungen. Im Schalter, wo eben noch eine Angestellte Bahntickets verkauft hat und wo ich jetzt nach einer Gepäckaufbewahrung fragen will, geht plötzlich das Licht aus. Dafür geht zwei Schalter weiter links das Licht an und eine Kollegin nimmt dort den Dienst auf. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schalterhalle, wo es in beiden Ecken jeweils einen Schalter gibt, wechseln ebenfalls die beiden Schalter. Witzig. Die nun Dienst habende Schalterbeamtin nimmt gegen eine geringe Gebühr und mit einem unzufriedenen Grummeln ob deren Größe unsere Rucksäcke an. Erleichtert und voller Vorfreude stürzen wir uns in die uns unbekannte Stadt.
Sibiu – Brașov
2006 wurde der Triebwagen von Siemens in Deutschland gebaut. Und seitdem vermutlich nicht ein einziges Mal gereinigt. Verdreckte Sitze, verkratzte Armlehnen, vollgesprayte Außenscheiben, eingeschlagene Fensterscheiben, übler Geruch. Wir müssen mit dem Zug zwar nur knapp 150 Kilometer fahren, aber dafür wird er knapp 4 Stunden brauchen. 4 Stunden lang dieser Geruch nach ungepflegten, alkoholisierten alten Männern? Wir versuchen, den Geruch auszublenden. Der Blick aus dem Fenster zeigt auch 20 Kilometer hinter Sibiu noch relativ viele relativ große Neubauhäuser. Ein Feld voller Solarzellen, zwischen den Solarzellen ungewöhnlich geformte Heuballen. Später rücken die südlichen Karpaten ins Blickfeld, die mal näher am Zug, mal weiter entfernt vorbeiziehen. Kleine Dörfer mit markanten Kirchtürmen und krummen Hausdächern, bewaldete wolkenverhangene Hügel, nicht asphaltierte Bahnhofsvorplätze, die ersten beiden freilaufenden Hunde, die Überholung durch den Zug, der 50 Minuten vor uns hätte in Sibiu losfahren sollen…. Die Strecke ist leider eher langweilig, weil man nie richtig nah an die Berge rankommt und den Fluss auch selten sieht. Interessanter ist, was im Zug alles befördert wird. Riesige Kartoffelsäcke, Kleidungssäcke und Tomatensäcke werden von Dorf zu Dorf transportiert. Alte Männer, die irgendwie alle betrunken aussehen. Als der Zug dann doch mal näher an die Berge herankommt und auch mal einen Tunnel durchfährt, verlangsamt er auf den schlechten Gleisen auf 15 km/h. Nach dem Tunnel dann wieder Beschleunigung auf atemberaubende 45 km/h. Langsam, aber pünktlich erreichen wir Brașov, von dort aus werden wir in den nächsten Tagen die Karpaten erwandern.
Brașov – Bukarest
Auf dem Abteiltisch stehen eine Wasserflasche, ein Cappuccino, das GPS-Gerät und das Netbook. Die Klimaanlage funktioniert. Der Zug ist pünktlich, bequem und schnell. Praktiker, Carrefour, Decathlon, Brico Depot und Selgros ziehen am Fenster vorbei. Dass man nicht in Westeuropa ist, erkennt man nur an den günstigen Ticketpreisen. Und daran, dass zwischen den Baumärkten ein Hirte auf seine Schafe aufpasst. Seid wir unterwegs sind, ging die Abteiltür viermal auf. Erst der Schaffner. Dann die Frau, die ihre Waren samt Preisschilder auf dem Sitz ausgebreitet hat (Taschenlampe, Notizblock, …), um sie fünf Minuten später wieder abzuholen. Gerade eben der Himbeerverkäufer. Der Interregio nach Bukarest gleicht einem rollenden Supermarkt. Es ist nicht ganz so absurd wie in Russland, wo man auf dem Bahnsteig schon auch mal eine Motorsäge und im Zug ganze Klamottenkollektionen angeboten bekommt, aber interessant ist es allemal. In einer weitausholenden Schleife mit Kehrtunnel hat sich der Zug auf über 1.000 Meter Höhe hinaufgeschraubt. Viel Wald, ein kleiner Bach, ab und zu kleine Siedlungen mit Subsistenz-Landwirtschaft, immer wieder Blicke auf die umliegenden Gipfel – auch auf „unseren“ Gipfel von gestern. Die Bahnstrecke mitten durch die Südkarpaten ist eine sehr schöne, und der Zug fährt mittlerweile zum Glück langsam genug, dass man die Landschaft ausgiebig genießen kann. Und natürlich freuen wir uns schon darauf, mit der Straßenbahn und zu Fuß Bukarest zu erkunden.
Im „Balkan-Express“ durch die Walachei
Die Großdiesellok zieht die zwei Waggons durch die endlosen Ebenen der Walachei. Der hintere Waggon ist ein in der DDR gebauter „Halberstädter“, das grüne Sitzmuster wurde nicht ausgetauscht, nachdem die rumänische Bahn den Wagen von der Deutschen Bahn gekauft hat. Der vordere Wagen besteht aus Abteilen mit jeweils acht Sitzplätzen. Dieser Waggon fährt von Bukarest bis nach Sofia durch und ist der mickrige Rest des einstigen „Balkan-Express“. Die Zeiten, als man von Bukarest nach Istanbul nicht umsteigen musste, sind leider vorbei. Wie oft wir bis Istanbul umsteigen müssen, wissen wir noch nicht, die Angaben schwanken zwischen einmal und dreimal. Am internationalen Ticketschalter im Bukarester Nordbahnhof haben wir einen Papierschnipsel mit einer Fahrplanauskunft in die Hand gedrückt bekommen, der drei Umstiege vorsieht. Mal schauen. Ein Ticket haben wir schonmal bis nach Istanbul, die Sitzplatzreservierung reicht nur bis nach Gorna Orjahovica. Wo auch immer das ist. Die Walachei als langweilig zu bezeichnen ist eine deutliche Untertreibung. Natürlich sind die Dörfer mit ihren asphaltierten Haupt- und geschotterten Nebenstraßen, mit den großen Lkws und kleinen Pferdefuhrwerken, mit den winkenden alten Männern auf den Parkbänken, mit dem kleinen Subsistenzwirtschaftsgärten hinter den Häusern, interessant. Aber wenn man eines dieser Dörfer gesehen hat, dann hat man alle gesehen. Hat man einen Maisacker gesehen, dann hat man alle gesehen. Hat man eine der zahlreichen Stromleitungen gesehen, dann hat man alle gesehen. Bram Stoker hat seine Dracula-Geschichten nicht zu Unrecht ins „spannendere“ Transsylvanien verlegt, obwohl das Dracula-Vorbild Vlad III. eigentlich Herrscher der Walachei war. Eine wunderbare Bahnstrecke zum Dösen, Lesen, Schreiben. Aber auch zum Schwitzen, denn obwohl auf beiden Seiten die Fenster weit geöffnet sind, bringt die Zugluft kaum Abkühlung. Die Walachei im August ist nicht wirklich angenehm. Aber mit 70 km/h mit dem Zug durchzufahren ist deutlich angenehmer als, wie ich es vor sechs Jahren gemacht habe, mit Fahrrad und viel Gepäck durch die heiße Einsamkeit zu strampeln. Der kurze Zug ist relativ leer, die Fahrgäste sind auffällig international. Backpacker auf dem Weg von Rumänien nach Bulgarien oder Istanbul bevorzugen offensichtlich den Zug, während die Einheimischen Flugzeug oder Bus vorziehen. Engländer, Deutsche, Asiaten, ein Brasilianer – der Anteil der Interrail- und Eurail-Pässe an den Fahrkarten in den beiden Waggons ist hoch.
In Bulgarien
In Giurgiu wurde die Lok gewechselt: statt von einer rumänischen Diesellok wurden unsere zwei Waggons nun von einer rußenden bulgarischen Diesellok nach Ruse auf der anderen Donauseite gezogen. Dort wurde die Lok erneut gewechselt, nun ging es mit einer bulgarischen Elektrolok weiter. In Ruse wurden außerdem zwei zusätzliche Waggons angehängt, mit immerhin vier Waggons fühlt sich der Fernzug Bukarest – Sofia jetzt fast an wie ein richtiger Fernzug. Der Umstieg in Gorna Orjahovica hat geklappt. Aber „Don’t believe what they tell you in Bukarest“, der Tipp aus dem Internetforum, stimmt. Nicht um 19:00 Uhr, wie auf dem kleinen Handzettel aus Bukarest vermerkt, fuhr unser Anschlusszug, sondern um 18:40 Uhr, wie es der Bahn.de-Ausdruck, den ich zum Glück dabei habe, sagt. Erschrocken, dass auf der Abfahrtstafel voller kyrillischer Schriftzeichen keine 19:00 Uhr-Abfahrt steht, haben wir unser Bedürfnis nach Information und Platzreservierung zum Glück gleich abgebrochen und sind zum Bahnsteig gerannt, wo wir gerade noch rechtzeitig in den richtigen Zug gestiegen sind. Der „Zug“ besteht aus einer Elektrolok und einem – ja, einem! – Waggon. Ein Abteil mit acht durchgesessenen grünen Kunstledersitzen, ein weit geöffnetes Fenster, ein beständiges Rumpeln und Wackeln. Auf dieser Strecke ist früher der Orient-Express gefahren. Vor ein paar Jahren war es immerhin noch der „Balkan-Express“ aus Sofia bzw. Bukarest nach Istanbul. Jetzt das. Vom einstigen Glanz ist noch ein einziger Waggon übriggeblieben. Würde in diesem „Express“ ein Mord passieren, Hercule Poirot könnte die Befragung sämtlicher Zeugen und Verdächtiger schnell abschließen.
Svenja und ich teilen uns das Abteil mit Harry. Harry ist 21, kommt aus England und hat sich 14 Tage Zeit genommen, um ganz Europa abzufahren. Wir werden den ersten Tag in Istanbul mit ihm gemeinsam verbringen, am Abend wird er dann aber gleich wieder Richtung Athen aufbrechen, von wo aus er über Rom und Berlin nach London zurückfahren wird. In einer bulgarenglischen Mischung unterhalten wir uns mit einem älteren Mann und seinem Sohn über unsere Reise und so manches andere. Kurz zuvor hat die etwas gebrechliche Oma unser Abteil relativ schnell wieder verlassen. Nach mehrminütigem Redeschwall hatte sie endlich gemerkt, dass unsere Zeichen und fremden Laute bedeuten, dass wir sie nicht verstehen. Sie hat jemanden gesucht, mit dem sie während der Zugfahrt reden kann, gefunden hat sie uns drei Spinner. Leute, die kein Wort Bulgarisch sprechen und mit dem Zug nach Istanbul fahren wollen. Das war ihr irgendwie zu suspect.
Nachtfahrt nach Istanbul
Um 2 Uhr nachts überqueren wir im Schienenersatzverkehr-Bus die türkische Grenze, wobei die Grenzformalitäten an dieser EU-Außengrenze deutlich schneller erledigt sind als gestern Nachmittag an der rumänisch-bulgarischen EU-Binnengrenze. In der Gegenrichtung, von der Türkei Richtung Bulgarien, bildet sich allerdings auch mitten in der Nacht ein langer Rückstau vor dem Grenzübergang. Der Rückstau erinnert mich an die Radiomeldungen meiner Kindheit. „In Schirnding 1 Stunde für Pkw, 7 Stunden für Lkw.“ Bis vor wenigen Wochen dachten wir, diese Meldungen würden in Westeuropa endgültig der Geschichte angehören… Auf den Schienenersatzverkehr mussten wir kurz vor Mitternacht in der Weltstadt Dimitrowgrad ein bisschen warten. Mitten in der Nacht in einem gottverlassenen bulgarischen Nest ohne Fahrplanaushang oder ähnliches. Man könnte denken, hier sei der Hund begraben – aber der Hund hat irgendwo in der Ferne immer mal wieder gebellt. Zum Glück kam der Bus, hat uns zur und über die türkische Grenze gebracht, und ist gleich nach dem Grenzübergang links in einen Schotterweg abgebogen, der zu einem abgelegenen Bahnhof führt. Dort mussten wir dann den Bus wechseln. Vom bulgarischen Schienenersatzverkehrbus in den türkischen Schienenersatzverkehrbus, irgendwie absurd. Der türkische Bus ist deutlich bequemer und erlaubt uns, doch noch ein paar Stunden Schlaf zu sammeln. Svenja weckt mich, damit ich miterleben kann, wie wir nach Istanbul einfahren. Der erste Eindruck von Istanbul lautet: Wow! Mit 100 km/h fahren wir auf der 5-spurigen Autobahn seit geraumer Zeit durch Stadt. Ein dicht bebautes, nicht enden wollendes Häusermeer. Gläserne Büro-Hochhäuser, Minarette, unendlich viele mehrstöckige Wohnhäuser. Hier leben 16 Millionen Menschen. Vielleicht auch 18 Millionen, so ganz genau weiß das niemand. Und jedes Jahr kommen 250.000 dazu. Wir unterqueren ein römisches Aquädukt. Wo man hinblickt, nichts als Häuser, Häuser, Häuser. Unglaublich, dass das auf der asiatischen Seite des Bosporus noch weitergehen soll. Istanbul ist irre, das zeigt schon die Einfahrt in die Stadt. In den nächsten vier Tagen werden wir die Stadt intensiv erleben.
