Montag, 04.10., 16:46h (MEZ+2)
„Der
Weltraum, unendliche Weiten“. Ok, Weltraum ist das hier keiner, aber
die Weiten scheinen unendlich. Moskau liegt gerade einmal 200 km hinter
uns, aber die Welt vor dem Fenster ist bereits eine völlig andere. Die
großen Wohnhochhäuser Moskaus und die zahlreichen Siedlungen des
unmittelbaren Umlandes sind einer weiten und ebenen Landschaft gewichen,
in der es außer Land- und Forstwirtschaft anscheinend nicht so viel zu
tun gibt. Abwechslungsreich ist es schon, man verpasst jetzt aber auch
nicht viel, wenn man mal fünf Kilometer lang nicht aus dem Fenster
schaut. Die beiden Jungs aus dem Kaukasus, die heute Nacht über uns
schlafen werden, sind echt nett. So kommt es, dass wir um drei Uhr
nachmittags schon das zweite Bier in der Hand hatten. Unglaublich, welch
spannende Unterhaltungen man mit drei Worten Russisch haben kann, wenn
man das richtige Wörterbuch und den eloquenten Dirk dabei hat. Super,
dass er mir diese Reise vorgeschlagen hat. Super, dass wir heute hier
sind. Bahn fahren war schon immer mein Ding. Transsib ist es auch.
Montag, 04.10., 19:48h (MEZ+2)
Den
Aufenthalt in Danilow werde ich so schnell nicht mehr vergessen. Dass
an den Unterwegsbahnhöfen der Transsib sogenannte Babuschkas (wörtlich
übersetzt: Omas) Lebensmittel – meist aus dem eigenen Garten oder Herd –
anbieten, war uns vorher bekannt. Dass es so abgefahren ist, hat uns
dann doch überrascht (Zitat Dirk: „krass Alter, gib mir mal die
Kamera!“). Bahnsteige gibt es keine, man muss also recht tief springen,
um zu den Verkäuferinnen zu gelangen. Die Verkäuferinnen – nur äußerst
selten sind es Männer – haben indes den anspruchsvolleren Job: Sie
müssen unter den Waggons hindurchklettern, um auf die Zugseite zu
gelangen, an der die Passagiere aussteigen. Aufgabe der Zugbegleiter –
auch im Liegewagen gibt es in jedem Waggon mindestens einen – ist es,
das Leben der Käufer und Verkäufer zu schützen, wenn mal wieder eine
große Lok vorbeirauscht oder sich der eigene Zug beim Lokwechsel in
Bewegung setzt (die Loks werden hier anscheinend ständig gewechselt,
zumindest an den Grenzen der Bahnverwaltungen).
Nach in diesem Fall
23 Minuten, wenn die Lebensmittelvorräte aufgefüllt und die Stufen
hinauf in den Waggon erklommen sind, wirft der Schaffner mit der großen
Taschenlampe (in Russland ist anscheinend alles größer als bei uns,
selbst Taschenlampen) noch einmal einen letzten Blick unter den Waggon,
um zu überprüfen, ob da auch keine Babuschka gestrandet ist. Dann kann
die Reise in die russische Nacht weitergehen.
Dienstag, 05.10., 11:46h (MEZ+3)
Es
waren nur ein paar Flocken, aber es war eindeutig Schnee, der da heute
Morgen in Balesino auf dem Bahnsteig gelandet ist. In der kalten,
feuchten Luft hing der sichtbare Atem von hungrigen Fahrgästen und
fleißigen Babuschkas. Die Nachfrage nach Frühstück wird durch das
Angebot der Babuschkas mehr als nur erfüllt. Einen schöneren Ort für ein
Marktgleichgewicht kann man sich gar nicht vorstellen.
Die erste
Nacht in der Transsibirischen Eisenbahn war erstaunlich bequem und
störungsfrei. Matratze auf der Sitzbank ausrollen, Schlafsack drüber,
fertig ist das Nachtquartier. Ausgestreckt schlafen kann man bei meiner
Körpergröße leider nicht, da würden die Füße zu weit in den Gang
reichen. Geht aber auch ein wenig zusammengerollt.
Von frühester
Kindheit an wird man ja von seinen Eltern in den Schlaf gewiegt, meiner
Meinung nach der Grund dafür, warum man im schaukelnden Zug so schnell
müde wird und einschläft. Wacht man zwischendurch doch einmal auf, dann
meist, wenn der Zug in einem Bahnhof steht, also nicht schaukelt.
An
den schaukelnden offenen Liegewagen haben wir uns schon ganz gut
gewöhnt. Der Gang zum Samowar am Wagenende, um heißes Wasser für Tee und
Suppe zu zapfen, ist schon Routine. Miserabel ist selbstverständlich
der Zustand der Toilette, aber daran muss man sich in Russland einfach
gewöhnen…
Dienstag, 05.10., 12:34h (MEZ+3)
Vor
dem Fenster nichts spektakulär Neues: bei den Wäldern dominieren
Birken, bei den Dörfern dominieren halbverfallene Holzhäuser, bei den
Städten dominieren stinkende Industriebetriebe und interessante
Lokdepots. Das alles in einem relativ regelmäßigen Abstand, gegliedert
durch große, meist in Süd-Nord-Richtung fließende Flüsse. Gestern Abend
haben wir zum Beispiel die Wolga, den größten Fluss Europas (aber nur
der fünftgrößte Fluss Russlands!) überquert. Klingt alles in allem
langweiliger als es ist, das unbekannte, völlig anders als in
Deutschland aussehende Landschaftsbild lockt unsere Blicke immer wieder
aus dem Fenster. Die Einheimischen – also der Rest des Waggons – wundern
sich natürlich, warum wir ständig fotografieren und filmen wollen. Die
Leute aus den anderen Waggons haben sich sicher auch schon lustig
gemacht über die beiden Westeuropäer, die immer mit der Kamera auf dem
Bahnsteig stehen. Aber wir haben es ja nicht anders gewollt, sonst wären
wir mit einem schnelleren Expresszug gefahren, mit dem dann vermutlich
auch noch andere Rucksacktouristen unterwegs gewesen wären. Dazu muss
man wissen: je kleiner die Zugnummer, desto schneller und komfortabler
und somit bei Touristen beliebter sind die Züge in Russland. Die
durchgehenden Züge von Moskau nach Beijing haben die Nummern 4 und 6.
Wir fahren gerade mit Zug 350…
Dienstag, 05.10., 14:12h (MEZ+3)
Mögen
die kleinen Holzhaussiedlungen noch so verträumt und idyllisch
aussehen, für die Bewohner sind die schlecht beheizbaren Häuser
natürlich alles andere als bequem. Die Menschen scheinen ausschließlich
von Subsistenzwirtschaft, aufgrund des unfruchtbaren Bodens also in
erster Linie von Viehwirtschaft zu leben. Das erklärt die eine Kuh oder
die zehn Ziegen, die oft am Ortsrand stehen. Die einzige Hoffnung der
Menschen hier ist vermutlich der Zug nach Moskau, der mehrmals täglich
an ihrem Dorf vorbeirauscht. So lange, bis sie sich selber ein Ticket
nach Moskau leisten können. Eine Einzelfahrt.
Dienstag, 05.10., 15:42h (MEZ+3)
Man
muss sich immer wieder vor Augen führen, dass die Transsibirische
Eisenbahn noch heute die wichtigste Entwicklungs- und Siedlungsachse
Sibiriens ist (das zeigt zum Beispiel in Blick in den Diercke-Weltatlas
oder auf das wunderbare Poster „die Welt bei Nacht“). Hier findet man
die größten Städte, die größte Besiedlungsdichte und die
beeindruckendsten Brücken. Würde man 200 Kilometer weiter nördlich
parallel zur Transsib fahren, wäre das Bild von Russland vermutlich ein
noch viel extremeres. Große Orte oder gar Millionenstädte würde man
vergeblich suchen; statt der Birkenwälder, die es nur am südlichen Rand
der Taiga gibt (also da, wo die Transsib fährt), würde man auf dunkle
Nadelwälder treffen. Eine solche Reise wäre aber nicht nur langweilig,
sondern vermutlich auch unmöglich: asphaltierte Straßen oder
Eisenbahnstecken würde man vergeblich suchen, Brücken über die großen
Flüsse auch. Ist aber auch gar nicht nötig, wir sind sowieso bereits auf
der Transsib überrascht von der unglaublichen russischen Weite.
Dienstag, 05.10., 17:36h (MEZ+4)
Die
politisch konstruierte Grenze zwischen Europa und Asien führt ja
bekanntlich unter anderem durch das Uralgebirge (später führt sie etwas
nördlich des Kaukasus-Hauptkammes und nicht direkt auf dem Kamm entlang,
damit dem französischen Wunsch entsprechend der Mont Blanc der höchste
Berg Europas ist und nicht der deutlich höhere Elbrus, aber ist eine
andere Geschichte). Wer jetzt erwartet, dass man mit der Transsib ein
richtiges Gebirge überquert, wird bitter enttäuscht. Im Laufe der
Jahrmillionen ist der Ural (zumindest im zentralen Bereich, in dem er
von der Transsib gequert wird) zu einer unauffälligen Ansammlung sanft
gerundeter Hügel verkümmert (bzw. erodiert). Wir wurden von den
Reiseführern davor gewarnt, deshalb sind wir nicht enttäuscht, sondern
eher positiv überrascht. Seit Perm ist die Strecke nämlich mal wieder
etwas spannender und abwechslungsreicher (vorher konnten wir endlich mal
lesen und dösen). Perm selbst, das „Tor zu Sibirien“, hat uns schon
sehr überrascht: nach stundenlanger Quasiwildnis plötzlich wieder eine
russische Millionenstadt mit allem, was dazugehört: Plattenbauten,
Stadtautobahn und Lenin-Denkmal.
Hinter
Perm folgte eine großflächig verwüstete Industrie(brachen)landschaft,
die uns (nicht zuletzt, weil mich die Landschaft sehr an meine Bahnfahrt
von New York nach Toronto vor zwei Jahren erinnerte) zur spannenden
Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Weltmächte
des 20. Jahrhunderts gebracht hat (mangelnde Sensibilität im Umgang mit
natürlichen Ressourcen ist ja leider auch ein Wahrzeichen der USA).
Beide Länder sind sich in vielen Dingen ähnlicher als ihnen lieb ist
(Linksradikale sehen ja auch oft genauso aus wie Rechtsradikale…). Der
größte Unterschied ist vielleicht wirklich die systemisch bedingte
unterschiedliche Staatsauffassung: während der Russe noch heute
sehnsüchtig darauf wartet, dass endlich der Staat kommt und seinen
Garten schön macht und sich in der Wartezeit darüber aufregt, dass sich
der Staat nie um ihn und seinen Garten kümmert, nimmt der Amerikaner
einfach einen Spaten in die Hand und macht seinen Garten schön,
schließlich ist er sich selbst der nächste. Folglich sehen Vorgärten in
Amerika deutlich gepflegter aus als in Russland.
Man könnte jetzt
darüber philosophieren, ob man von den gepflegten Vorgärten auf das
ganze Land schließen kann und ob die Grenze zwischen diesen beiden
Mentalitäten nicht auch mitten durch Deutschland führt. Aber ich will
jetzt keine politische Diskussion lostreten, ich will einfach nur bei
Piroggen und Tee die vorbeiziehende, recht interessante Ural-Landschaft
genießen.
Mittwoch, 06.10., 9:47h (MEZ+4)
Unsere
Mitreisenden wechseln ständig, wir bleiben einfach immer im Zug.
Natürlich ist die Transsibirische Eisenbahn die längste Bahnstrecke der
Welt und die wichtigste Verkehrsverbindung Sibiriens, aber das heißt
nicht, dass alle Passagiere mehrere tausend Kilometer lang an Bord
bleiben. Der eine fährt zum Verwandtschaftsbesuch nach Perm, der nächste
zum Auswärtsspiel seines Fußballvereins von Jekaterinburg nach Omsk.
Wenn wir erzählen, dass wir bis nach Irkutsk und dann weiter nach
Beijing fahren wollen, ernten wir nur Kopfschütteln und abfällige
Kommentare. Nur wenige Gesichter, die mir hier im Gang begegnen, sind
schon seit Moskau im Zug.
Seit Moskau hat der Zug bereits mehr als
2.400 Kilometer zurückgelegt. Wir fahren durch Westsibirien. Die
Temperaturen haben sich dem Gefrierpunkt noch weiter angenähert, die
Bäume haben ihre Blätter zum Teil schon verloren. Entweder ist der
Herbst hier kürzer als westlich des Urals, oder er hat früher
angefangen. Auf jeden Fall scheint er bald vorbei zu sein. Die Birken
tun sich sichtlich schwer damit, ihre Blätter noch ein wenig zu
behalten, die Wolken am Himmel riechen förmlich schon nach Schnee.
Mittwoch, 06.10., 10:04h (MEZ+4)
Mitten
in der westsibirischen Einsamkeit liegt der Ort Karasulskaya. Der Zug
hat dort vorhin so lange gehalten, dass ich einen kleinen
Morgenspaziergang ins „Ortszentrum“ machen konnte – im Übrigen war ich
der einzige Fahrgast, der das kleine Bahnhofsgelände verlassen hat, ein
weiteres Indiz für meine These, dass nicht viele andere Touristen an
Bord sein können.
Karasulskaya besteht aus einer asphaltierten
Durchgangsstraße – in den 27 Minuten Aufenthaltszeit fuhr genau ein
Auto, ein alter schwarzer Lada – und mehreren nicht asphaltierten
Nebenstraßen, die zu den einzelnen Holzhäusern mit ihren eingezäunten
Vorgärten führen. Auf den Nebenstraßen drei, vier rüstige Rentner, die
irgendwelche Gegenstände irgendwohin schleppen. Sonst nichts. Erinnert
mich ein bisschen an die Walachei in Südrumänien. Woran man erkennen
soll, dass man in Asien ist, ist mir ein Rätsel. Habe immer noch so
meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Ural-Grenze…
Mittwoch, 06.10., 15:35h (MEZ+5)
Es
ist unglaublich, wie schnell die Zeit auf dieser Fahrt vergeht. Gefühlt
gerade aufgestanden, ist es in vier Stunden schon wieder dunkel. Eine
Stunde Fahrzeit zwischen zwei Stationen kommen mir meist vor wie zehn
Minuten. So kommt es, das wir jetzt schon Omsk verlassen, obwohl es
gerade eben noch drei Stunden waren bis Omsk. Seltsam, wie sehr mein
Zeitgefühl verrückt spiel auf dieser Reise. Ob das (meine Theorie) an
den ständigen Zeitumstellungen (wir sind mittlerweile schon fünf
Zeitzonen vor Berlin) liegt? Oder ob es (Dirks Theorie) am dauerhaft
niedrigen Ruhepuls liegt? Keine Ahnung.
Omsk, eine hässliche
Millionenstadt, war objektiv betrachtet das Highlight des Tages, der uns
überwiegend durch westsibirische Steppe führt. Wie es sich anfühlen
muss, in einem dieser gottverlassenen Dörfer hier in der Steppe zu
wohnen? Warum so viele Birken kaputt sind (wie Brandfolgen sieht es
nicht aus, eher wie Insektenbefall)? Warum wackelt der Waggon immer dann
so extrem, wenn wir Tee eingießen? Alles Fragen, die der heutige Tag
nicht beantworten wird. Aber wenigstens hat er sie aufgeworfen.
Mittwoch, 06.10., 20:40h (MEZ+5)
Ist das jetzt der zweite oder dritte Tag in diesem Zug? Ist heute Donnerstag oder Freitag? Oder doch Montag? Ach, ist doch egal.
Donnerstag, 07.10., 10:15h (MEZ+6)
Eigentlich
hatten wir erst in der Mongolei mit ihm gerechnet, jetzt hat er uns
doch schon in Mittelsibirien mit seinem Besuch überrascht: der Schnee.
Es war damit zu rechnen. Seit Tagen wird es jeden Morgen ein bisschen
kälter, und erste Schneeflocken haben wir ja am ersten Abend nach Moskau
schon gespürt. Nun schneit es also richtig, und der Schnee bleibt zum
Teil auch liegen. In den Wäldern um uns herum ist anscheinend schon der
russische Winter ausgebrochen, am 7. Oktober.
Russland, ein
Wintermärchen? Naja, für Dirk gerade nicht, der konnte sich noch immer
nicht die Zähne putzen, weil sich eine „fette Sau“ an ihm
vorbeigedrängelt und ihm den Zugang zur Toilette verwehrt hat. Andere
Länder, andere Sitten.
Donnerstag, 07.10, 15:10h (MEZ+6)
Es
ist wirklich auffällig, dass die Russen anscheinend keine Bücher lesen.
Sie stricken, reden, gucken stundenlang in die Luft (nicht aus dem
Fenster!), aber sie lesen nicht. Wenn doch mal einer liest, dann eine
Illustrierte. Das war in der Moskauer Metro auch schon so, aber in einem
Fernzug, der 5.000 Kilometer unterwegs ist, ist es natürlich
auffälliger, dass außer uns irgendwie niemand ein Buch dabei hat. Muss
es nicht unglaublich langweilig sein, stundenlang einfach so in die Luft
zu gucken? Ist das Leben nicht viel zu kurz, um damit seine Zeit zu
verschwenden? Heißt es nicht immer, dass Lesen bildet? In Russland
anscheinend nicht. Der Tipp des russischen Fußballfans gestern Abend,
„ihr müsst hören, nicht lesen“ war glaube ich ernst gemeint. Er ist der
Meinung, dass man viel mehr lernt, wenn man dem zuhört, was die Leute zu
sagen haben, als wenn man irgendwelche blöden Bücher liest. Auch ein
interessanter Ansatz. Aber erstens verstehe ich die Menschen hier
sowieso nicht, und zweitens hatte er in Bezug auf Bildung jetzt auch
nicht gerade eine Vorbildfunktion. Ich werde also weiter mein Buch lesen
(im Übrigen das sehr interessante Buch „Russland – Das wahre Gesicht einer Weltmacht“ von Thomas Roth).
Donnerstag, 07.10., 16:12h (MEZ+6)
Wir
haben lange überlegt und diskutiert, in welcher Abteilart wir auf der
Transsib reisen wollen – Zweibettabteil im Schlafwagen, Vierbettabteil
im Schlafwagen, oder doch im offenen Liegewagen („platzkartny“). Gegen
das 2er-Abteil sprach vor allem der Preis, gegen den Liegewagen die
Befürchtung, dass man stets um sein Hab und Gut besorgt sein muss. Diese
Sorge erwies sich als größtenteils unbegründet – die unteren Liegen
kann man aufklappen und sein Gepäck darin verstauen, sodass wir also auf
unserem Hab und Gut schlafen. Wir haben die Wahl des Liegewagens
jedenfalls nicht bereut. Die interessanten „Gespräche“ mit den anderen
Fahrgästen (Fremdsprachenkenntnisse besitzt hier wirklich niemand,
unsere Russischkenntnisse sind bekanntlich rudimentär) wären uns im
Schlafwagen entgangen, und die machen ja nicht zuletzt den Reiz einer
Reise auf der Transsibirischen Eisenbahn aus.
Der erste wirklich
unangenehme „Mitbewohner“ liegt gerade mitsamt seiner Tattoos und Narben
und seiner CCCP-Boxershorts über Dirk und schläft. Solange er schläft,
kann er mich nicht rumkommandieren und von Dirk nicht verlangen, dass er
ihm sein Handy geben soll, damit er damit eine SMS schreiben kann.
Beruhigend.
Läuft man einmal durch den kompletten Zug – das sollte
man auf jeder Fahrt mit der Transsib mindestens einmal machen, allein
die seltsamen Waggonübergänge und die Giftspritze von
Speisewagen-Mitarbeiterin lohnen diesen Spaziergang! – so stellt man
fest, dass Typen wie der über Dirk in manch anderem Waggon eher die
Regel als die Ausnahme sind. In manchen Waggons – in unserem Zug vor
allem die hintersten zwei – hat man das Gefühl, durch eine psychatrische
Anstalt oder einen Hochsicherheitstrakt zu laufen. Warum sind wir der
Meinung, dass so viele Russen aussehen wie Killer? Ist es die Prägung
durch das westliche Fernsehen (Stichwort James Bond), wo die Bösewichte
überdurchschnittlich oft slawische Gesichtszüge tragen? Oder muss man in
einer Gesellschaft wie Russland, wo eine unabhängige Justiz genauso
wenig zu erwarten ist wie ein funktionierendes Sozialsystem, einfach
robuster sein, um sich notfalls im wahrsten Sinne des Wortes
durchschlagen zu können? Keine Ahnung. Der weiche Kern hinter der harten
Schale ist aber oft vorhanden, man darf nur nicht aufgeben. Der
Schaffnerin im Nachbarwaggon konnten wir zum Beispiel beim dritten
Versuch ein kurzes Lächeln abringen.
Donnerstag, 07.10, 16:43h (MEZ+6)
Seit
der Abfahrt in Berlin mussten wir jetzt schon sechsmal die Uhr um eine
Stunde nach vorne drehen. Wären wir in die andere Richtung gefahren,
wären wir jetzt in New York. Stattdessen schaukeln wir mal wieder durch
einen mittelsibirischen Birkenwald. Auf den ersten Blick sah es gestern
auch schon so aus. Und vorgestern auch. Deutlich verändert hat sich nur
die Länge des Schals meiner strickenden Nachbarin. Doch ein zweiter
Blick auf die Birkenwälder lohnt sich: vorgestern haben Sie noch
herbstlich-gelb geleuchtet, heute haben sie schon fast keine Blätter
mehr. Während also westlich des Urals noch Herbst ist, beginnt in
Mittelsibirien schon der Winter – wie am beschriebenen Schneefall heute
Vormittag unschwer zu erkennen war.
Es lohnt sich auch, die
entgegenkommenden Güterzüge näher zu betrachten. Auf den ersten Blick
sehen sie alle gleich aus, grüne Loks mit rotem Stern und vielen
Waggons. Auf den zweiten Blick hat sich die Ladung geändert: im Ural
wurde noch überwiegend Kohle befördert, während hier jetzt vor allem
Holz transportiert wird. Was in den Container- und Stückgutwaggons
befördert wird, weiß man natürlich nicht. Auffällig ist auf jeden Fall,
wie viele Güterzüge uns begegnen (und mit ihrem Lärm unsere Gespräche
unterbrochen, auffallend häufig vor allem dann, wenn wir uns gerade
regierungskritisch äußern…). Ein Reiseführer spricht sogar davon, dass
die Transsib die am dichtesten befahrene Güterzugtrasse der Welt ist.
Das glaube ich zwar nicht, aber die Häufung von Güterzügen ist schon
beeindruckend. Kohle aus Sibirien für Moskauer Heizkraftwerke, Autos aus
Japan für den russischen Markt, Lebensmittel aus China für den
westeuropäischen Markt: alles, was auf dem Landweg von Asien nach Europa
und umgekehrt befördert wird, wird über die Transsib befördert.
Folglich ist die Transsibirische Eisenbahn in den letzten Jahren mit
großem finanziellem Aufwand ausgebaut worden und wird – wie die
zahlreichen Bauarbeiter auf und an der Strecke beweisen – noch immer
ausgebaut. Alte Brücken wurden durch neue, Holzschwellen durch
Betonschwellen ersetzt. In den zahlreichen Reisereportagen über die
Transsib, die überwiegend in den 1990er Jahren gedreht wurden, wird oft
ein etwas (zu) nostalgischer Eindruck vermittelt. Die Strecke Moskau –
Wladiwostok ist heute durchgehend zweigleisig und elektrifiziert. Wenn
man aus dem letzten Waggon auf die Strecke schaut, sieht es meist auch
nicht anders aus als zwischen Berlin und Cottbus. Holzgeschnitzte
Speisewagen-Interieurs mit Porzellan-Services gibt es auch nur in den
Touristen-Sonderzügen (später sollen wir noch feststellen, dass es das
in der Mongolei auch noch im Regelzug gibt). Trotzdem: auch in den
Regelzügen ist die Transsib ein ganz besonderes Bahnerlebnis. Sei es die
Verladung der Kohle für die Waggonheizung an den Unterwegshalten; der
Samowar, aus dem man sich regelmäßig heißes Wasser zapfen kann (während
es auf der Toilette nicht einmal kaltes Wasser und meist auch kein
Klopapier gibt) oder aber die eigenwilligen russischen Schaffner (und
Passagiere). Ist schon was ganz besonderes, auf der Transsib unterwegs
zu sein. War ne gute Idee von meinem Opa, dass er das zu seinem 80.
Geburtstag mit mir zusammen machen wollte. Schade, dass er nicht so alt
geworden ist.
Donnerstag, 07.10, 20:57h (MEZ+6)
Während
wir noch darüber diskutieren, ob der östliche Teil der Transsibirischen
Eisenbahn schon farbig ist oder noch schwarz-weiß, ist draußen schon
wieder dunkle Nacht, immer wieder kurz aufgehellt durch die Lichter der
entgegenkommenden Güterzüge. Nasse Schneeflocken laufen über die
Scheibe. Zeit, einen weiteren Tag im Zug Revue passieren zu lassen. Den
vorerst letzten. Sowohl von der Landschaft als auch vom Wetter her war
es der abwechslungsreichste Tag auf der Transsib. Schnee, Graupel,
Regen, Sonne, Wolken: außer Gewitter war eigentlich alles dabei. Vor
allem aber waren Berge und Flüsse dabei. Von allen Transsib-Abschnitten,
die wir bei Tageslicht genießen durften, war der rund um Krasnojarsk
bisher der schönste. Sich auf den Hügeln ausbreitende
Datschensiedlungen, sich am Horizont auftürmende Berge, ihre
Schornsteine in den Himmel streckende Industrieanlagen.
Aufgrund
der strategisch geschützten Lage im Landesinneren wurde Krasnojarsk zu
einem Zentrum der sowjetischen Atom- und Rüstungsindustrie. Das sieht
man dem Stadtbild natürlich an. Statistisch ablesen kann man die
luftverschmutzende Industrie sicher an einer auch im russischen
Vergleich niedrigen Lebenserwartung. Die meisten Russlandbesucher haben
Krasnojarsk übrigens schon einmal gesehen: der 10-Rubel-Schein zeigt
nämlich die Paraskewa-Pjatniza-Kapelle in Krasnorjarsk und die dortige
Brücke über den Jenissei (der angeblich wasserreichste Strom der Erde,
der Sibirien in West- und Ostsibirien teilt).Die Brücke ist zwar vor ein
paar Jahren durch einen Neubau ersetzt worden, aber nach wie vor
beeindruckend. Wenige Kilometer nach der Brücke zweigt übrigens eine
Nebenbahn nach Krasnojarsk 26 ab, das in erster Linie aus einer sog.
„Atommüllwiederaufbereitungsanlage“ besteht. Weder Stadt noch
Bahnstrecke waren in sowjetischen Karten eingezeichnet.
Freitag, 08.10, 08:57h (MEZ+7)
Nicht
einmal mehr eine Stunde, dann sind wir in Irkutsk. Dann
müssen/sollen/dürfen wir den lieb gewonnenen Zug nach fast vier Tagen
verlassen. Auf der einen Seite schon irgendwie schade. Auf der anderen
Seite überwiegt aber schon auch die Vorfreude auf mal wieder richtig
Hände waschen, duschen und eine frische Unterhose anziehen. Und
natürlich auf Irkutsk, die angeblich schönste Stadt Sibiriens. Die Bahn
müssen wir ja nicht lange entbehren, in gut 20 Stunden geht’s schon
wieder weiter Richtung Beijing – dann allerdings im Schlafwagen, von den
russischen Platzkartny-Waggons müssen wir uns verabschieden. Von den
verrückten Klamotten-, Bücher- und Schmuckverkäufern, die hier häufiger
mal vorbeikommen und ihre Ware an den Fahrgast bringen wollen
wahrscheinlich auch. Aber das Schöne an diesem Urlaub ist ja, dass nach
dem Ende des einen Abenteuers immer gleich nach das nächste folgt.
Freitag, 08.10, 14:29h (MEZ+7)
Ich
nutze die Chance, meine ersten Eindrücke von Irkutsk festzuhalten,
bevor der altersschwache Bus anfängt, uns zum Baikalsee zu schütteln.
Die Stadt ist sehr sympathisch, vor allem sind die Menschen
ausgesprochen nett und hübsch. Der Reiseführer hat nicht zu viel
versprochen, dass man von der Freundlichkeit der Menschen überrascht
sein wird, wenn man aus dem europäischen Teil von Russland kommt. Etwas
detaillierter dann später, der Bus fängt an zu schütteln…
Freitag, 08.10., 21:58h (MEZ+7)
Der
Bus hat mehr als nur geschüttelt, da war schreiben wirklich unmöglich.
Bei der ruppigen Fahrweise auf der achterbahnartigen Straße war außer
Festhalten überhaupt nicht viel möglich. Dieser Bus von Irkutsk nach
Listvianka hatte aber gegenüber dem Bus zurück nach Irkutsk dennoch
einen großen Vorteil: er ist überhaupt gefahren. Im Reiseführer war die
letzte Rückfahrt mit 18:00h angegeben, das wurde uns im Irkutsker
Busbahnhof (ein grandioses Kleinod, in dem die Zeit seit Jahrzehnten
stillsteht!) bestätigt, wo man uns eine Rückfahrkarte für den 18-Uhr-Bus
verkauft hat. In Listvianka haben wir uns dann vom Busfahrer noch
einmal bestätigen lassen, dass er um 18 Uhr zurückfährt. Der aufmerksame
Leser wird sich schon denken, wie die Geschichte ausgegangen ist…
Busticket umsonst gekauft, eine dreiviertel Stunde in der Kälte
gestanden und dann mit einem der zahlreichen halsbrecherischen
Marschrutki-Minibusse irgendwo an den Stadtrand von Irkutsk gebraust,
mit Hand-und-Fuß-Konversation schließlich zurück in die Innenstadt
gefunden.
Listvianka
selbst war definitiv weniger aufregend als die Rückfahrt. Das Kaff ist
zwar vier Kilometer lang, aber – zumindest im Oktober – ziemlich leer
und langweilig. Bei einem der Versuche, einen Hügel zu erklimmen, um den
Baikalsee von oben zu sehen, sind wir im wahrsten Sinne des Wortes fast
vor die Hunde gegangen (Zitat Markus: „Scheißköter, in China werden wir
euch alle auffressen!“).
An der Terrasse vor dem vergammelten Hotel
aus Sowjetzeiten dann endlich der erhoffte Blick hinunter auf den
majestätischen Baikalsee und die schneebedeckten Berge am anderen Ufer.
So groß wie Belgien, doppelt so viel Wasser wie die Ostsee, 20% der
weltweiten Süßwasserreserven, 636 Kilometer Nord-Süd-Ausdehnung, 2.000
Kilometer Uferlänge, im Winter bis zu 150 Zentimeter Eisdicke. Diese
Zahlen zeigen: der Baikalsee ist schon eine Nummer!
Freitag, 08.10., 23:02h (MEZ+7)
Wir
müssen zwar morgen um 4:00h aufstehen, trotzdem bin ich noch wach, weil
uns der Schwede und die Polin gerade noch auf ein Bier eingeladen
haben. Vorher hatten wir mit den beiden Franzosen Spaghetti gekocht. Die
Franzosen haben uns erzählt, dass die drei Polen, die wir heute Morgen
kennengelernt und dann heute Nachmittag im Bus nach Listvianka
wiedergetroffen haben, vorhin Hals über Kopf aufgebrochen sind, weil sie
doch noch Karten für den Abendzug Richtung Mongolei bekommen haben. Das
wissen die beiden Finnen, die heute Morgen auch dabei waren und gerade
reingekommen sind, sicher noch gar nicht.
Was ich damit sagen will:
wir haben heute endlich wieder andere (Rucksack-)Touristen getroffen!
Mit denen man englisch sprechen kann! That’s so unbelievable!