Es ist ja immer noch der selbe Zug, auch nach Überschreitung der
Schweizer Grenze. Die Displays sind seit Stuttgart kaputt. Aber zum
ersten Mal entschuldigt sich jemand dafür. Für Deutschland gut genug,
aber den Qualitätsansprüchen der Schweizer Bahn entspricht der Zug
nicht.
Kurz nach dem Überschreiten der Grenze kommt
Schaffhausen, und kurz nach Schaffhausen kommt der Rheinfall. Wow! Der
Blick aus dem Zugfenster auf die sich hinabstürzenden Wassermassen ist
jedes Mal aufs Neue beeindruckend. Die Bahnfahrt ist bislang kein
Reinfall, sondern großartig. Und jetzt bin ich in der Schweiz, jetzt
kann ja eh nichts mehr schiefgehen.
Nächstes Highlight ist die wunderschöne Brücke oft die Aare. Nach der Brücke beschreibt die Strecke einen Linksbogen, so dass man sie sehen kann, wenn man nach hinten schaut. Bis sich ein quadratischer Metallkasten ins Bild schiebt, in dem ein Bahngleis verschwindet. What? Es lohnt sich, auf der Strecke Stuttgart – Zürich in Fahrtrichtung links zu sitzen, nicht nur wegen dem Rheinfall.
Warum ich durch die Schweiz fahre? Weil ich nach Italien will. Heutiges Tagesziel: Mailand.
Umstieg
in Zürich Hauptbahnhof. Blick auf die riesige Abfahrtstafel: Der
einzige Zug, der Verspätung hat, würde in Deutschland als pünktlich
gelten, die S3 nach Hardbrücke ist drei Minuten zu spät. Ich liebe die
Schweiz.
Zürichsee, Zuger See, Vierwaldstätter See: die vielleicht schönste Landschaft der Welt ergießt sich vor den Zugfenstern. Noch schöner würde es auf der Gotthardbahn hinauf nach Göschenen werden – ich habe mich heute aber für die rasante Fahrt unter den Alpen hindurch entschieden. Mit 180 km/h jagt der Giruno-Triebzug durch den 57 km langen Gotthard-Basistunnel. Auf dem Display wird manchmal die Geschwindigkeit und der Standort angezeigt. Meine klaustrophobische Nervosität war mal wieder vor dem Tunnel schlimmer als im Tunnel. Solange der Zug jetzt keine Vollbremsung macht, fühle ich mich wohl, genieße den Espresso aus dem Bordbistro und freue mich darauf, dass es auf der Alpensüdseite wieder hell wird. Und zwar richtig hell: während sich an der Alpennordseite dunkle Wolken stauen, sieht der Himmel 57 Tunnelkilometer weiter südlich deutlich blauer aus.
Man denkt, die Seen auf der Nordseite der Gotthardachse sind die schönsten der Welt. Dann erreicht man an der Gotthard-Südseite den Luganer See und den Comer See und kommt doch nochmal ins Grübeln...
Ich kann mich ja nie entscheiden, ob die Schweiz oder Italien das schönste Land der Welt ist. Aber es muss nicht entweder oder sein, es kann auch das Tessin sein. Hach, ist das schön hier. Jedes Mal aufs Neue.
Stopover in Chiasso bei 26 Grad. Sommer, Sonne, Palmen. Herrlich! Der Schweizer Zug kommt 2 Minuten zu früh an. War ja klar. Ein „klassischer“ Tickettrick: Europa-Sparpreis bis Chiasso buchen (hat in meinem Fall ab Stuttgart 31 € gekostet), ab da dann Anschlussticket nach Mailand. Das hätte mich, wenn ich im EC hätte sitzenbleiben wollen, 17 € gekostet. In der S-Bahn von Trenord sind es nur 6 €. Der Schwabe in mir hat sich für die S-Bahn entschieden, aber eigentlich nur, weil der Pufferküsser in mir mal den Bahnhof Chiasso kennenlernen wollte. Ich mag (ehemalige) Grenzbahnhöfe. Sie strahlen viel Historie aus, und man kann in ihnen interessante Details finden. Im Bahnhofskiosk von Chiasso zum Beispiel das Nebeneinander von schweizer und italienischen Zeitungen. Oder den Wegweiser, der in eine Richtung nach Italien und in die andere Richtung in die Schweiz weist.
Ich hatte den Wegweiser erst nicht gesehen, mich für das falsche Land entschieden und den Anschlusszug hinterm Grenzzaun stehen sehen… Im zweiten Anlauf entscheide ich mich für Italien. Auf dem Bahnsteig kann ich dann noch beobachten, wie mein schicker schweizer Zug auf den italienischen Stromabnehmer wechselt und abfährt, bevor ich in den grünen Rumpelzug Richtung Milano Garibaldi einsteige.
Die Zugtoilette beweist: ich habe mich eindeutig gegen die Schweiz entschieden. Mit dem Fuß auf ein Pedal treten, damit dann doch kein Wasser kommt, das ist Italien. Die blauen Sitze, die blauen Bahnsteigschilder, die blau-gelb-weiß-grünen Mülleimer auf dem Bahnsteig: die Farben von Trenitalia. Robust, funktional, Urlaub.
In Mailand rumpeln noch immer die über 100 Jahre alten Peter Witt Wagen. In der fahrenden Straßenbahn installiere ich die App des hiesigen Verkehrsbetriebs, registriere einen Account und schaffe, eine Fahrkarte in die Wallet zu laden. In einem 100 Jahre alten Straßenbahnwagen ein digitales Ticket lösen ist irgendwie witzig.
Ich halte die Kamera aus dem offenen Fenster und fotografiere das Sonnenuntergangslicht auf den Hausfassaden. Eigentlich wird das hier ja eine Fahrradreise und keine Bahnreise, zur Überleitung genieße ich mein Abendessen in einem Fahrradcafé.
Am nächsten Morgen hatte ich den Wecker auf 6.30 Uhr gestellt, ich sitze aber um 6.21 Uhr schon in der U-Bahn. Der innere Drang, noch eine neue Straßenbahnstrecke zu fahren, war größer… Ich steige an einer Haltestelle in die Straßenbahn ein, die es offiziell noch gar nicht gibt - komme aber nicht bis zum gewünschten Ziel, weil die Straßenbahn vorher eine 180-Grad-Wende macht und zurückfährt... Obwohl ich schon häufig hier war und Straßenbahnstrecken abgeklappert bin, wird es noch eine Weile dauern, das etwa 170 Kilometer lange Mailänder Straßenbahnnetz zu komplettieren. Immerhin: Der Ostast der Linie 7 und der Nordast der Linie 1 sind jetzt auch erledigt.
Ich
genieße noch ein typisch italienisches Frühstück (Cappuccino und zwei
Croissants für insgesamt 4,50 €), dann begebe ich mich zum Bahnhof
Milano Greco Pirelli und steige in den Zug nach Piacenza. Dort beginnt
dann eine mehrtägige Radreise nach Genua, aber das ist eine andere
Geschichte.
























