Über Umwege (und den dümmsten Anschlussbahnhof Deutschlands) nach Aachen

 

Zollstock. Sülz. Kalk. Nippes: Köln ist nicht die schönste Stadt Deutschlands, aber es hat die schönsten Stadtteilnamen. Man trinkt hier gerne Kölsch und man fährt KVB. In "Zollstock Südfriedhof" steige ich gerade in die KVB-Stadtbahn der Linie 12. Die letzten drei von mir noch nicht gesammelten Strecken im 190 Kilometer langen Kölner Stadtbahnnetz sind heute fällig. Irgendwann komme ich dann nochmal wieder, um Seilbahn und Parkeisenbahn zu erfahren. Dauert ja gar nicht so lange hierher: nur zweieinhalb Stunden bin ich heute Morgen aus Esslingen angereist.

Eine Frau ruft "Scheiße!", als beim Beschleunigen der Stadtbahn ihre Bierflasche umkippt und sich deren Inhalt auf den Wagenboden ergießt. Es ist 10:56 Uhr. Ich steige aus in einem unterirdischen 80er-Jahre-Museum namens "Hans-Böckler-Platz/Bf. West". Es riecht streng nach Urin. Köln ist weitestgehend verwahrlost, aber auf eine sympathische, tolerante Art. Nicht so unfreundlich verwahrlost wie Berlin. 

Von Köln-Ehrenfeld fahre ich weiter ins Erfttal – und lerne den dümmsten Anschlussbahnhof Deutschlands kennen: Bedburg (Erft). Es fängt schon damit an, dass sich mir nicht erschließt, warum man hier überhaupt umsteigen muss. Bis 2017 konnte man im Zug sitzen bleiben, um von südlich von Bedburg nach nördlich von Bedburg zu fahren, seit 2017 muss man in Bedburg umsteigen. Man steigt jetzt von einem Dieseltriebwagen Typ LINT der RB38, die hier endet, um in einen Dieseltriebwagen Typ LINT der RB39, die ebenfalls hier endet. In meinem Fall: fahrplanmäßige Ankunft 12:08 Uhr, fahrplanmäßige Abfahrt 12:12 Uhr. Tatsächliche Ankunft: 12:12 Uhr. Mein verspäterer Zug ist DB Regio-Rot, der Anschlusszug ist VIAS-blau. Die beiden Züge halten nicht etwa am selben Gleis hintereinander. Sie halten auch nicht am selben Bahnsteig gegenüber. Nein, der eine hält rechts außen auf Gleis 1, der andere links außen auf Gleis 2. 

Zwischen Gleis 1 und Gleis 2 liegen ein Stumpfgleis, eine Brachfläche und viel Müll. Zwei Außenbahnsteige statt einem Mittelbahnsteig. Man sieht also links den Anschlusszug stehen, muss aber rechts aussteigen, zur Treppe vorrennen - die sich nicht mal auf Höhe des Bahnsteigs befindet, sondern einige Meter vom vorderen Zugende entfernt -, Treppe runterrennen, durch die versiffte Unterführung rennen, Treppe hochrennen, dem abfahrenden Zug hinterwinken. Das war hier nicht schon immer so beschissen: der Bahnhofsumbau hin zu dieser behämmerten Umstiegssituation ist erst 2012-2013 erfolgt. Wie sehr muss man seine Fahrgäste hassen, um so einen Bahnhof zu planen?

Eine Stunde ungeplante Zwangspause in Bedburg. Was mache ich jetzt? Ich könnte mich mit dem Alkoholiker am Bahnsteig anfreunden. Oder in die Stadt laufen. Ich laufe in die Stadt.

Nicht weit vom dämlichsten Umstiegsbahnhof Deutschlands befindet sich der dämlichste Bahnübergang des Landes: es gibt zwar Ampeln für Autos, die die Kreuzung neben der Schranke regeln, aber keine Signale oder Blinklichter für den Bahnübergang, schon gar nicht für Fußgänger. Man hat also keine Ahnung, wann sich die große Schranke schließen wird. Man hofft, dass sie es nicht tut, während man gerade drunter durchläuft. Die Deutsche Bahn hat viele fähige Ingenieure. Die anderen hat sie in Bedburg eingesetzt. 

In der Innenstadt angekommen, erkenne ich schnell: die dämliche Umstiegssituation am Bahnhof ist ein Trick der Tourismusverantwortlichen von Bedburg. Denn so können sie zeigen, wie schön ihre Stadt ist. Hübsche kleine Häuschen, Typ Kohletagebauregion; nette Läden (mein Highlight: eine Mischung aus Café und Fahrradladen); und vor allem: ein grandioses Wasserschloss. Ich umrunde es auf schönen Pfaden, setze es mit einem blühenden Baum in Szene und danke der Deutschen Bahn, dass sie mir den Zwangsaufenthalt in Bedburg geschenkt hat. 

Zurück am Bahnhof besteige ich den blauen Zug Richtung Düsseldorf und stelle fest: eine Stunde später hätte der Anschluss vom roten Zug aus Köln geklappt. Dann hätte ich das schöne Schloss verpasst.

Der folgende Abschnitt der Erfttalbahn wurde in den 1970er Jahren neu gebaut, die ursprüngliche Strecke fiel dem Tagebau Garzweiler zum Opfer. In den 1990er Jahren wurde sogar der Streckenast von Bedburg nach Düren komplett abgerissen und fiel dem Tagebau Hambach zum Opfer. Die Kohleverstromung ist hier in der Region noch lange nicht Geschichte: Vor dem Bahnhof Gustorf fahre ich an einem riesigen Kraftwerk vorbei. Man kann für das Klima nur hoffen, dass RWE hier bald die Kohle ausgeht. 

Der weitere Streckenverlauf über Grevenbroich nach Neuss ist weniger spektakulär, aber insgesamt gilt: die Erfttalbahn ist definitiv eine Reise wert. Auf meiner Bucketlist steht jetzt: mal mit dem Fahrrad auf dem "Speedway Terranova", den ich vorhin überquert habe, durch die Tagebau(folge)landschaft radeln.

Im weiteren Tagesverlauf sammle ich noch die Bahnstrecken Mönchengladbach – Dalheim, Heinsberg – Lindern und Alsdorf – Stolberg. Von Dalheim nach Heinsberg bringen mich zwei Busse, der Umstieg erfolgt in Wassenberg. Die Wartezeit auf den nächsten Bus überbrücke ich durch einen Netto-Einkauf – und werde an der Kasse zweimal vorgelassen. Auf der weiteren Busfahrt unterhält sich der Busfahrer vor der roten Ampel mit einem Autofahrer auf der benachbarten Fahrbahn. Schon nach wenigen Stunden ist klar: Am Niederrhein sind die Menschen netter als am Neckar.

 

Die weitere Route ist sehr schön, ich habe nur ein Problem: Es gibt in den Zügen und Bussen keine Toiletten, und wenn es doch mal eine gibt, ist sie kaputt. Am Bahnhof Stolberg halte ich es nicht mehr aus, ich brauche dringend ein WC. Aber es gibt keines. Beziehungsweise es hat seit 14 Uhr geschlossen. Ich renne wie ein Bekloppter ums Parkhaus, aber ich finde nicht mal einen Baum. Die Bäume auf der anderen Seite der Bahngleise sind unerreichbar. Der nächste Zug nach Aachen hat ewig Verspätung. Was tun?

Ich schaue, wann der nächste in die falsche Richtung fährt. In wenigen Minuten. Das ist die einzige Lösung: ich warte die sehr langen fünf Minuten Verspätung auf dem Bahnsteig und halte die Blase dabei in Bewegung, hoffend, dass sie dadurch erwärmt wird und sich analog zum Eiffelturm bei Hitze ausgedehnt.

Endlich kommt der Zug. Ich vermute die behindertengerechte Toilette (also die, wo ich mitsamt Rucksack reinrennen kann) an der richtigen Tür. Ich sprinte an verdutzen Fahrgästen vorbei direkt in die Toilette, schließe die Tür und verrichte mein Geschäft. Noch in der Toilette höre ich die Ankündigung des nächsten Halts Eschweiler. Ich wasche meine Hände und verlasse die Toilette in dem Moment, als der Zug gerade die Türen öffnet. Direkt wieder aussteigen. Puuuh, das hat gut getan. Jetzt kann ich entspannt auf den nächsten Zug nach Aachen warten. Und darüber spekulieren, worüber sich die Mitmenschen im Mehrzweckabteil vor der Toilettentür, an denen ich zweimal vorbeigerannt bin, jetzt Gedanken machen.