Wir erschrecken kurz, weil der Zug nicht auf dem Abfahrtsanzeiger steht. Später taucht er doch auf. Und startet am Starnberger Flügelbahnhof. Also muss man sich den Zug erstmal erarbeiten mit einem langen Fußmarsch durch den Münchner Hauptbahnhof.
Am
Bahnsteig erwartet uns ein Doppelstock-Triebzug (KISS 3 von Stadler,
Baujahr 2021). Was als erstes auffällt: Die breite Eingangstür. Wow.
Kein Vergleich mit den gewohnten engen Türen von ICE und Railjet.
Die
reservierten Plätze sind schnell gefunden. Bei der Westbahn scheint es
also Standard zu sein, dass der Wagen, in dem man reserviert ist, auch
wirklich dabei ist (kleiner Seitenhieb zur Deutschen Bahn muss sein).
Während der Fahrt werden wir merken: die Reservierungsanzeigen zeigen
den Zugbetreuerinnen, für welchen Streckenabschnitt auf diesem Sitzplatz
eine Fahrkarte gescannt wurde. „Personalwechsel, die Fahrscheine
bitte!“ braucht es bei der Westbahn also nicht.
Der
Sitz ist sehr bequem, auf die Armlehne passt tatsächlich ein Arm, der
Tisch ist groß, es gibt ein praktisches Gepäcknetz am Vordersitz, es
gibt für jeden Sitz eine Steckdose: Tippitoppi. Mal wieder fragt man
sich: Warum muss der ICE4 so besch* sein? Es würde auch anders gehen.
Einziger
Wermutstropfen: Der Platz fürs Gepäck im Obergeschoss ist sehr
begrenzt. Wir kriegen es gut hinter der hintersten Sitzreihe unter, aber
bei vielen Reisenden mit viel Gepäck würde es schwierig werden.
Die
Toilette ist auffallend sauber. Anscheinend macht die Westbahn am
Zielbahnhof die Toilette sauber, bevor sie den Zug wieder auf die Reise
schickt. Sollte eigentlich Standard sein, ist aber leider überraschend.
Es wird nach Frauen- und Männerklo unterschieden, in letzterem gibt es auch ein Pissoir. Unnötig, aber schon auch irgendwie witzig.
Eigenen
Speisewagen hat die Westbahn nicht, aber einen Automaten mit Essen und
Getränken. Die Ottakringer-Dosen lachen mich an. Der Kaffeeautomat auch.
Können wir ja später mal testen.
Jetzt
erstmal Platz nehmen und den Blick aus dem Fenster auf München und die
Isar genießen. Großer Beinabstand, und jeder Fensterplatz ermöglicht
tatsächlich einen Blick aus dem Fenster. Erster Eindruck nach ein paar
Minuten: Warum kann nicht jeder Zug so sein wie die Kiss-Züge der
Westbahn?
Das Passagieraufkommen ist angenehm niedrig, es gibt viele freie Sitzplätze. Anders als bei den beiden 9-Euro-Sardinenbüchsen heute Vormittag.
Nach dem Halt in München Ost stört ein regelmäßiges klopfendes Geräusch. Ursache unklar. Es hört aber irgendwann auch wieder auf.
Ohne weiteren Zwischenhalt geht es durch das bayerische Voralpenland. Die Brücke in Traunstein ist einfach jedes Mal aufs Neue schön.
Den Chiemsee sieht man leider nur kurz, dafür hat man aus dem anderen Fenster quasi durchgehend schöne Blicke auf die Chiemgauer Alpen. Zwölf Jahre ist es mittlerweile her, dass ich die für die Erstellung eines Wanderführers erklimmen durfte.
Wir
überqueren die Saalach. Und somit die Grenze nach Österreich.
Spätestens jetzt hat niemand mehr eine Maske auf. Kurz darauf überqueren
wir auch die Salzach, jetzt muss man nach in Fahrtrichtung rechts
schauen, um Salzburg und die Festung Hohensalzburg zu sehen. Aus einem
Doppelstockwagen-Obergeschoss kann man diesen Blick erst genießen, seit
die Westbahn bis nach München durchfährt.
Bald
nach der Abfahrt in Salzburg machen wir es uns in der Café-Ecke
gemütlich. Der Automat spuckt zwei Wasserflaschen zum Preis von einer
aus. Der Cappuccino ist keine Offenbarung, aber auch hier gilt: Immerhin
besser als im ICE.
Richtung Alpen sieht es nach Regen aus. Kann uns egal sein, wir haben ein Dach über dem Kopf.
Nach
dem Snack geht's zurück ins Obergeschoss. Vöcklabruck.
Attnang-Puchheim. Wels. Baustellen bremsen den Zug aus und erhöhen die
Verspätung, mit letzter Kraft schleppt sich die Stadler-Garnitur in den
Hauptbahnhof von Linz. Hier füllt sich der Waggon merklich. Es wird
deutlich: Von Linz nach Wien ist die Bahn konkurrenzfähig. Seit die
„Neue Westbahn“ hier für 230km/h ausgebaut wurde, muss man schon sehr
autoaffin sein, um nicht auf die bequeme Bahn umzusteigen.
Die
Züge des Unternehmens Westbahn fahren auf der Westbahn zwar „nur“
200km/h, nach dem Gebummel der letzten Stunden fühlt sich das aber fast
nach Lichtgeschwindigkeit an. Ein letzter Blick auf Pöstlingberg und
Stahlwerk, dann beschleunigt der Zug und rauscht dem ersten längeren
Tunnel entgegen. Amstetten. Zwischen zwei Tunnels erhascht man einen
kurzen Blick auf das berühmte Stift Melk. In St. Pölten erhascht einen
Blick auf den Schmalspurzug der Mariazellerbahn.
Die
Druckdichtigkeit im Wienerwaldtunnel ist nicht herausragend, die
Schnelligkeit, mit der wir nach Wien gelangen, schon. Die Verspätung
reduziert sich bis zum Zielbahnhof auf 8 Minuten. Ein letzter Halt in
Wien-Hütteldorf. Auf dem Bahnsteig Otto Wagner-Grün. Nun sind wir schon
im Wiener U-Bahn-Radius. Noch ein kurzer Sprint für den spurtstarken
Triebzug, dann erreichen wir den Wiener Westbahnhof. Ja, die Westbahn
endet am Westbahnhof. Nomen est Omen. Soll der Railjet ruhig zum
Stahl-Glas-futuristischen Hauptbahnhof durchrauschen, wir betreten Wien
durch die monumentale Nachkriegshalle des Westbahnhofs. Vor uns der
Gürtel, mit der Bim geht’s weiter zum Ring.
„Der Weg ist das Ziel“ stimmt nicht, wenn das Ziel Wien ist.