Eisenbahn in Albanien: Durrës - Elbasan

 

Fährt er oder fährt er nicht? Das ist die spannende Frage, die sich uns in Bezug auf den Zug von Durrës nach Elbasan stellt. Es ist im September 2022 der einzige Personenzug in ganz Albanien. Die Website der albanischen Bahn behauptet, dass er fährt - und zwar von Juni bis September, jeweils Samstag und Sonntag, ein Zug pro Tag und Richtung. Der Besitzer des Hostels in Tirana behauptete, dass der Zug derzeit nicht fährt. Es bleibt spannend.

In Durrës angekommen, finden wir den Bahnhof recht schnell. Ein ziemlich großes, ziemlich leeres Gebäude mit vielen blauen Stühlen und insgesamt drei Menschen. Zwei davon sind auch Backpacker, die mit dem Zug fahren wollen. Die dritte sitzt in einer Ecke der großen Halle hinter einem Fenster mit der Aufschrift „Biletari“. Die freundliche Frau verkauft Fahrkarten. Das ist doch schonmal ein gutes Zeichen. Das Ticket wird von Hand beschriftet. In ein großes Buch wird eingetragen, wie viele Fahrkarten ausgestellt wurden. Hier hat alles seine Richtigkeit. Und vor einem Stromausfall muss man keine Angst haben.



Der Eisenbahnfriedhof hinter dem Bahnhofsgebäude sieht nicht danach aus, wie wenn da noch was fahren könnte. Aber eine Lok und ein Wagen werden sich tatsächlich pünktlich um 15 Uhr in Bewegung setzen. Die Lokomotive wurde 1988 in der Tschecheslowakei gebaut, der Wagen ungefähr zur selben Zeit in der DDR. Die Länder, in denen dieser Zug gebaut wurde, gibt es nicht mehr, aber den Zug gibt es noch. Größenteils zumindest. Ein paar Fensterscheiben fehlen. Beziehungsweise: sie liegen in der Gepäckablage.

Überraschung 1: Dieser Zug mit den fehlenden Scheiben und Sitzpolstern kann noch fahren. Überraschung 2: Der Wagen ist gut gefüllt. Von rauchenden Männern, neugierigen Kindern, dem Backpacker-Pärchen aus der Bahnhofshalle und fünf jungen Österreichern. Die anderen Urlauber sind mutmaßlich auch Eisenbahnliebhaber, die unbedingt dieses Bahnabenteuer erleben wollten. Überraschender ist, dass viele Einheimische tatsächlich den Zug nutzen, um von A nach B zu kommen. Einen Zug, der zweimal pro Woche fährt.

In Golem gibt es einen Bahnhofsvorsteher, der auch das Fahrkartenverkaufsbüro betreibt. Für zwei Züge pro Woche und Richtung. An Bord des Zuges gibt es zwei Lokführer, eine Schaffnerin und eine Putzfrau. Ganz schön viel Personalaufwand für einen einzigen Waggon.

Bei der Abfahrt in Kavaje haben wir nur 3 Minuten Verspätung, obwohl wir bislang noch nie schneller als 35 km/h gefahren sind. Von der Adria hat sich der Zug mittlerweile entfernt und rumpelt ins Landesinnere. Vor dem Fenster immer mal wieder kleine Felder. Tabak. Wein. Obst. Truthähne. Gänse. Schafe. Ziegen. Immer mal wieder eine Kuh. Kühe sind in Albanien anscheinend keine Herdentiere, sondern Statussymbole. Ein Maultierfuhrwerk. Kräuter. Birnen. Mais. Plastikmüll. Ab und an ein kaputtes Signal. Vor dem Fenster ist es so spannend, dass der Zug gerne noch langsamer fahren dürfte.

Die Sträucher stehen so dicht am Gleis, dass sie durch die Fensterrahmen ins Abteil hineinragen. Es ist richtig laut, wenn die Maisblätter am Fensterrand entlangfächern. Nach einer Stunde im Zug komme ich mir vor wie ein geschmückter Weihnachtsbaum: Arme. Schultern und Schoß sind bedeckt von Blättern und Gestrüpp. Diese Bahnfahrt, die ist lustig, diese Bahnfahrt, die ist schön.


Nach dem Halt in Lekaj beschleunigt der Zug auf 42 km/h. Das fühlt sich atemberaubend schnell an. Der Wagen springt quasi in mehrere Richtungen gleichzeitig. Die Lokomotive röhrt und pfeift aus dem letzten Loch.

Eine größere Zahl verrosteter, zugewachsener Gleise kündigt den Bahnhof Rrogozhine an. Von den Nachbargleisen ist teilweise nur noch eine Schiene erhalten. Manche Schienen der Nachbargleise hängen komplett in der Luft. Hoffentlich ist das Gleis, auf dem wir fahren, etwas fester im Boden verankert.

Die Landschaft hat sich mittlerweile deutlich gewandelt. Draußen ist es jetzt hügeliger und dünner besiedelt. Am Horizont sieht man nun richtige Berge. Ein alter Mann führt Ziegen über den Acker. Eine alte Frau treibt mit einem langen Stock Truthähne den Weg entlang. Ein Mann hält zwei Leinen in den Händen, an einer Leine eine Kuh, an der anderen Leine ein Pferd. Ein anderer Mann hütet ein paar Schafe. Olivenbäume. Friedhof. Moschee. Ein trockenes Maisfeld. Granatäpfel. Pflaumen. Ein alter Betonbunker aus der Hoxha-Diktatur, der heute wahrscheinlich ein Hühnerstall ist. Wieder Olivenbäume. 

An einem Bahnübergang kommt der junge Ladenbesitzer neugierig aus dem Geschäft. So oft erlebt er das nicht, dass hier ein Personenzug vorbeikommt. Auch wenn dieser nur aus einer Lokomotive und einem Waggon besteht.

In Peqin steigen viele Passagiere aus, es scheint sich um den wichtigsten Unterwegshalt zu handeln. In der Tat stehen hier seit längerer Zeit mal wieder dreistöckige Gebäude. Laut und dauerhaft hupend bahnt sich die Lokomotive ihren Weg aus der Stadt. Es klingt wie im Fußballstadion. 

Palmen in den Vorgärten. Verschiedenstes Obst und Gemüse auf den Feldern. Schafe grasen zwischen Grabsteinen. In der zunehmend bergigeren Landschaft überqueren wir auf niedrigen Brücken trockene Täler. Tatsächlich lohnt auch die Landschaft eine Fahrt mit diesem verrückten Zug.

Die einheimischen Fahrgäste wechseln immer mal wieder die Plätze, kommen miteinander ins Gespräch, rauchen eine Zigarette nach der nächsten und schmeißen ihren Müll durch den Fensterrahmen nach draußen. Wir Touristen staunen über Zug und Landschaft, sind aber deutlich weniger kommunikativ.

Vor dem Bahnhof in Bishqem steht neben dem Bahngleis ein schöner Feigenbaum. In den Vorgärten hängen Äpfel an den Bäumen und Trauben an den Reben. Was für uns romantisch ist, ist für die albanische Landbevölkerung vermutlich eine wichtige Einnahmequelle.

Mit 20 km/h schaukelt der Zug über eine lange Brücke, dann verschwindet er im Tunnel. Im Wagen ist es stockdunkel. Als es wieder hell ist, fahren wir plötzlich durch einen Kiefernwald. Dann wieder Dunkelheit. Nach dem nächsten Tunnel fahren wir nach längerer Zeit mal wieder parallel zu einer asphaltierten Straße. Es wird wieder „zivilisierter“, dichter besiedelt, moderner.

Brücke, Tunnel, kurz Licht, dann wieder Tunnel. Das Röhren der Lokomotive, das Quietschen der Schienen und die völlige Dunkelheit prägen die Tunnelfahrten. Wir sind nur 68 Meter über dem Meer, diese Streckenführung würde aber auch ins Hochgebirge passen. 

Ich hänge den Kopf durch die kaputten Fensterscheiben in der Außentür und blicke vor zur Lok. Ich hänge die Kamera aus der kaputten Tür am Ende des Zuges und blicke auf krumme Gleise. Ich liebe diesen kaputten Zug. Das hier ist wahrscheinlich das verrückteste Eisenbahnabenteuer Europas.

Kurz vor Elbasan verzweigt sich die Strecke. Weil ich mal wieder den Kopf aus der Tür rausgestreckt habe, erlebe ich ein tolles Schauspiel: Ein Mann steht an einer Weiche mitten im Nirgendwo und reicht dem Lokomotivführer eine Stange, während der Lokführer eine andere Stange aus der Lok wirft. Jeder Streckenabschnitt hat eine Stange, nur wer die richtige Stange hat, darf in den Streckenabschnitt einfahren. So ist sichergestellt, dass niemals zwei Züge kollidieren können. Man nennt das bei der Eisenbahn Signalsystem. Das albanische Signalystem ist ziemlich menschlich. 

In Elbasan ist Endstation. Die weiterführende Strecke nach Pogradec ist seit Jahren stillgelegt. Es gibt hochtrabende Pläne für eine durchgehende Bahnverbindung nach Nordmazedonien und Griechenland. Aber vorerst gibt es nicht einmal genug Geld, um das eine Personenzugpaar mehr als zweimal pro Woche fahren zu lassen.

Am Bahnsteig werden wir empfangen von wilden Hunden und kleinen Kindern, die sich freuen, an uns ein paar Brocken Italienisch ausprobieren zu können. Wir werden mit high five verabschiedet. Den vollgeschmierten kaputten Waggon lassen wir alleine zurück. Die Lok ist schon weggefahren und wird gleich am anderen Ende des Wagens wieder andocken. Dann hat sie wahrscheinlich Feierabend. Der nächste Personenzug muss erst in 6 Tagen wieder gezogen werden, am Samstag, den 17. September. Am 18. September ist dann Saisonende. Ob und wie oft der kaputte Waggon auch nächstes Jahr wieder durch das albanische Hügelland schaukeln wird, das weiß wohl noch niemand so ganz genau. Wahrscheinlich sollte man sich beeilen, wenn man dieses verrückte Bahnabenteuer noch in dieser Form erleben will. Vielleicht kann man sich aber auch noch viele Jahre lang Zeit lassen.