„Das ist der perfekte Ort für eine Landflucht“, war mein erster Gedanke,
als ich heute Morgen gegen 6:30 Uhr meine Augen aufgekriegt und durch
das Fenster geschaut habe. Nichts los da draußen. Ein okkergelbes,
trockenes Nichts mit kleinen Äckern, die in Handarbeit bewirtschaftet
werden; kleinen Steinhütten; und weit und breit keiner asphaltierten
Straße. Das Beste hier ist der Zug nach Ankara. Dauerhaft wohnen möchte
ich hier nicht – zum Durchfahren ist es aber natürlich superschön.
Im
Laufe des Vormittags rumpeln wir mehrmals durch beeindruckend steile
und enge Felsschluchten. Der Foto ist im Dauereinsatz, ständig gibt es
interessante Motive: Fluss; Felsen; unsere Diesellok und die ersten
Waggons auf einer alten Steinbrücke; ein großer Greifvogel; der
Streckenverlauf zwischen zwei Tunnelportalen. Die Felsen und Hänge
ändern in den nächsten Stunden mehrmals die Farbe: okker, grau, rot,
schwarz. Zwischen zwei Schlucht-Abschnitten fahren wir an einem großen
Stausee entlang, den es anscheinend noch nicht lange gibt – Staumauer,
Kraftwerk, verlegte Bahntrasse, Straße und Häuser sehen alle noch recht
neu aus. Die alten Häuser und Verkehrswege wurden wohl vom See
überflutet.
Zur Mittagszeit wird die Landschaft deutlich langweiliger. Statt Hörbuch („Schnee“
von Orhan Pamuk zur Einstimmung auf Kars) kann man also auch mal wieder
„richtig lesen“ und Mittagsschlafen, ohne viel zu verpassen. Ich lese
Texte über die Türkei und ihre jüngste Geschichte und sehe auf einer
Übersichtskarte, dass es auf der anderen Seite der Berge, die wir gerade
aus dem Zugfenster sehen, im vergangenen Jahr zu militärischen
Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden kam. Dabei sehen die
Berge so friedlich aus. Man erwartet in diesen schönen, kahlen Hängen
zwar weder Wanderwege noch Berghütten – aber eben auch keine Konflikte.
Das Mittagessen nehmen wir im Speisewagen zu uns. Man hat die Wahl
zwischen zwei Mikrowellen-Fertiggerichten, die beide aus Hähnchen und
Reis bestehen, jeweils serviert auf einem Pappteller. Aber die
Angestellten im Speisewagen – mit denen wir uns nur mit Händen und Füßen
und Blicken verständigen – sind so lustig und sympathisch (was ja
eigentlich dasselbe ist), dass wir uns hier auch ohne Michelin-Stern
gerne aufhalten. Eine Fahrt mit dem Dogu-Express ist wirklich
empfehlenswert.
Wir sitzen mal wieder in unserem geliebten Speisewagen und trotzen mit heißen Getränken der kalten Klimaanlage. Erzurum und das zugehörige Starkregen-Gewitter liegen bereits hinter uns, der Zug bummelt gerade durch Horasan. Großes Militärsperrgebiet, gackernde Hühner auf den Schotterstraßen – und überall werden neue Häuser gebaut. Dass sich die Türkei angeblich neuerdings in einer schweren Wirtschaftskrise befindet, hat sich scheinbar noch nicht bis Ostanatolien durchgesprochen – hier wird weiterhin gebaut, gebaut, gebaut, gebaut. Neue Autobahn, neue Hochhäuser, großes Einkaufszentrum in Erzurum – und selbst unsere Bahnstrecke wurde offensichtlich in den letzten Jahren parallel zur alten Strecke neu gebaut – allerdings erneut eingleisig und nicht elektrifiziert.
Die Landschaft ist hier oben (wir befinden uns derzeit auf etwa 1.700 Metern Höhe, der höchste Punkt der Strecke wird etwa 2.250 Meter hoch sein) recht karg. Das Getreide ist schon geerntet. Vereinzelt stehen größere Ansammlungen von Kühen in der Gegend rum. Im Talboden stehen vereinzelt Bäume, am Horizont hohe Berge. Mehr ist nicht. Neben dem Bahngleis verrotten alte Verladerampen, anscheinend werden die landwirtschaftlichen Güter – genau wie ein Großteil des Personenverkehrs – heutzutage auf der Straße abgewickelt. Dafür braucht man viel Öl. Das gibt es am Kaspischen Meer. Um es leichter in die Türkei transportieren zu können, wird eine Bahnstrecke von Kars nach Georgien gebaut. Die Eisenbahn ausbauen, damit man mehr Auto fahren kann? Die Theorie kam mir gerade, als wir an einer Tankstelle vorbeigefahren sind.
Wir vier profitieren von der neuen Bahnstrecke noch nicht: Weil sie auf der georgischen Seite noch nicht fertig ist, müssen wir ab Kars mit dem Bus weiterfahren. Von Kars trennen uns noch knapp drei Stunden, die aktuelle Verspätung beträgt 65 Minuten. Das Tagebuch werde ich in den nächsten drei Stunden besser geschlossen halten, der Regen ist nämlich wieder deutlich stärker geworden und einzelne Tropfen finden den Weg durch die Scheibe in den Speisewagen.
Als wir bei Dunkelheit in Kars ankommen, regnet es noch immer. 25 Stunden Fahrt, Nikotinduft und die versifften Zugtoiletten liegen hinter uns. Was vor uns liegt, werden wir erst morgen früh bei Helligkeit sehen.