Balkan-Reise 2015: Von Belgrad nach Montenegro

Mit einer Gemächlichkeit, die an Arbeitsverweigerung grenzt, rattert der Zug durch die Vorstädte von Belgrad. Das GPS-Gerät zeigt bislang nur selten mehr als 25 km/h an, manchmal stehen wir auch ganz. Wir sitzen im vierten und letzten Waggon, in einem sehr bequemen Sechserabteil. Vorerst vorbei sind verrenkte Haltungen auf zu engen und kleinen Bussitzen, hier kann man mal wieder richtig die Beine ausstrecken, den Kopf anlehnen und die Seele baumeln lassen. Schöne alte Waggons mit geöffneten Fenstern, wo die Sitze noch Sessel sind, wo der Zugbegleiter an den Zwischenbahnhöfen mit der Eisenstange auf die Bremsen haut um ihre Funktionsfähigkeit zu überprüfen, wo Steckdosen und Klimaanlagen ebenso fern sind wie geschlossene WC-Systeme, in diesen Waggons fühle ich mich einfach wohl. Zehn Stunden soll die Fahrt bis Pedgorica dauern, wenn der Zug halbwegs pünktlich ankommt erwischen wir heute Abend auch noch unseren Bus nach Kotor. Wir haben uns für die lange Fahrt reichlich mit Lebensmitteln eingedeckt, schließlich mussten wir mal wieder die Reste einer Währung aufbrauchen. Nach Italien, Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Türkei und Serbien wird Montenegro heute das neunte Land unserer Reise. Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien fehlen noch. Das Ticket von Serbien nach Montenegro kann man am Belgrader Hauptbahnhof aber nicht am internationalen Ticketschalter kaufen, sondern am Ticketschalter für die nationalen Bahnverbindungen. Welche wunderbare Symbolik für den Umgang Serbiens mit seinen ehemaligen Teilrepubliken, deren Unabhängig anzuerkennen Belgrad noch immer schwer zu fallen scheint. 

Die Strecke ist landschaftlich abwechslungsreich und meistens schön. Auf Mittelgebirgspassagen mit Wald, Felsen und vielen kurzen Tunnels folgen immer wieder Passagen in breiteren, landwirtschaftlich geprägten Tälern. Ich stehe oft im Gang neben den Abteilen und fotografiere durch das offene Fenster, andere Fahrgäste stehen im Gang und rauchen am offenen Fenster und schmeißen ihre noch glühenden Zigarettenstummel einfach aus dem Fenster auf den trockenen Boden. Die Dörfer am Streckenrand sehen überraschend modern aus, viele Einfamilienhäuser sind erst in den letzten Jahren entstanden. Auch der Fuhrpark auf der teilweise parallel verlaufenden Straße ist von ein paar Ausnahmen abgesehen recht modern. Unsere Beobachtung von gestern wird bestätigt, dass Serbien offensichtlich deutlich „reicher“ und „entwickelter“ ist als Bulgarien


Mittlerweile sind wir in Montenegro. Die Brücken sind hier scheinbar noch höher und die Tunnels noch länger als in Serbien. Montenegro investiert mit Unterstützung der Europäischen Union in sein Bahnnetz. Das hat uns das Bauschild am letzten Bahnhof verraten. Und das merkt man. Während der Zug in Serbien unglaublich langsam durch Tunnels und Schluchten geschlichen ist, schafft er es in Montenegro immerhin immer mal wieder auf über 80 km/h. Der Fahrplan setzt für die 468 Kilometer von Belgrad nach Podgorica 10 ½ Stunden an, tatsächlich haben wir uns mittlerweile etwa eine Stunde Verspätung eingefahren. Die Langsamkeit ist kein Problem, wäre da nicht das Problem mit dem Anschlussbus. Um heute noch ins gestern gebuchte Hostel in Kotor zu kommen, müssen wir um 20:20 Uhr in Podgorica in den Bus steigen. Momentan sieht es leider nicht so aus, wie wenn wir das schaffen könnten. Plan B, Hotel in Podgorica, ist ziemlich teuer, sowas wie günstige Hostels gibt es in Montenegros touristisch unattraktiver Hauptstadt laut Reiseführer nicht. Plan C, mit dem nächstbesten Bus irgenwoanders an die Küste, klingt reichlich gewagt. Plan D, im Taxi nach Kotor, dürfte sich preislich in der Kategorie Hotel in Podgorica bewegen. Wir hoffen also weiterhin auf Plan A, fotografieren dabei durch das offene Fenster das schöne Hochgebirge, hören Hörbuch und lesen. In diesem saumäßig gemütlichen Abteil, das wir schon seit mehreren Stunden für uns alleine haben, ließe es sich auch noch länger aushalten.




 

Nein, wir haben den Anschlussbus in Podgorica nicht geschafft. Ja, es gab doch noch einen späteren Bus, mit Ankunft in Kotor um 0:30 Uhr. Mit einer Cola und einem Buch haben wir uns die Wartezeit vor dem real existierenden Busbahnhofs-Betonungeheuer vertrieben und aus den Boxen der Bar mal wieder Klangkarussell gehört. Die Österreicher haben im Sommer 2015 den ganzen Balkan erobert, diesmal aber nur musikalisch.Wir werden in den nächsten Tagen Montenegro und Dubrovnik erobern, ebenfalls friedlich.