Samstag, 09.10., 11:32h (MEZ+7)
Draußen
lässt der Schneefall wieder nach, die Attraktivität der Landschaft hat
schon vor längerer Zeit wieder etwas nachgelassen. Der hinter uns
liegende Streckenabschnitt war aber der definitiv schönste unserer
bisherigen Transsib-Reise. Am linken Fenster der majestätische
Baikalsee, am rechten Fenster die schneebedeckten Berggipfel, die wir
gestern aus der Ferne erahnt hatten. Die Berge sind 2.000 bis 2.500
Meter hoch, wirken aber aufgrund der Schneemassen an ihren Hängen – im
Vergleich zum schneefreien Seeufer – viel höher.
Im
Gegensatz zu gestern hat der Baikalsee heute auch eine ordentliche
Brandung zu bieten. Schade, dass man den See schlecht fotografieren
kann, denn die (natürlich nicht zu öffnenden) Fenster sind noch viel
verschmutzter als im russischen Zug, mit dem wir von Moskau nach Irktusk
kamen.
Wie, wir sind nicht mehr in einem russischen Zug? Nein, der
Expresszug von Moskau über die Mongolei nach Beijing wird von der
chinesischen Staatsbahn betrieben. Merkt man vor allem am Aussehen der
Zugbegleiter und an den chinesischen Schriftzeichen überall im Waggon.
Offiziell sind wir ja schon seit der Überquerung des Ural„gebirges“ in
Asien, allmählich sieht man es auch endlich mal. Schon in Irkutsk sind
uns erstmals viele Einwohner mit asiatischen Gesichtszügen aufgefallen
(vermutlich handelt es sich um Burjaten, ein einst aus der Mongolei
eingewandertes Volk, heute die größte nationale Minderheit in Sibirien).
Noch auffälliger allerdings die Fahrzeuge: die meisten der allesamt
furchtbar stinkenden Stadtbusse stammen aus koreanischer Produktion
(Kia, Hyundai, Daewoo), ein Großteil der Autos aus japanischer
Produktion. Lustiges Detail am Rande: aufgrund des in Japan herrschenden
Linksverkehrs haben die von dort gebracht übernommenen Autos – gefühlt
etwa 60% der Fahrzeuge in Irkutsk – ihr Lenkrad am rechten Fleck, obwohl
natürlich, wie überall in Russland, Rechtsverkehr herrscht. Führt zu
absurd lustigen Situationen, wenn Kleinkinder vorne links im Auto sitzen
und man erst später checkt, dass der Fahrer rechts sitzt; es erschwert
aber beim Überqueren viel befahrener Straßen die Blickkontaktsuche mit
dem Autofahrer, weil man nie weiß, ob dieser links oder rechts sitzt.
Generell war in Irkutsk – ansonsten eine sehr sympathische, schicke und
weit weniger touristische Stadt als befürchtet – die Luftverschmutzung
noch viel übler als in Moskau. Wollen wir mal hoffen, dass das kein
schlechtes Omen ist für die bevorstehenden Stadtbesichtigungen in China…
Samstag, 09.10., 15:10h (MEZ+7)
Die
ursprüngliche Haupttrasse der Transsibirischen Eisenbahn führt von
Ulan-Ude weiter nach Osten, um nach nochmals über 3.600 Kilometern in
Wladiwostok den Pazifik zu erreichen. Wir haben diese Strecke nun
verlassen, um auf der – erst in den 1950er Jahren fertiggestellten –
„Transmongolischen Eisenbahn“ auf Beijing zuzusteuern.
Interessanterweise ist die Strecke seit dem Abzweig von der Transsib
viel spannender: mit einer Diesellok an der Spitze windet sich unser Zug
auf einer eingleisigen, nicht elektrifizierten Strecke durch das
Selengatal hinauf zur mongolischen Grenze. Für die 250 Kilometer wird
der „Expresszug“ – bei nur einem Zwischenhalt! – fünf Stunden brauchen.
Nach meinem Geschmack könnte er sogar noch langsamer durch diese
interessante Landschaft eiern. Das Landschaftsbild gibt uns Rätsel auf:
in der Mitte des Tales der breite Fluss, der Talboden aber eine
scheinbar völlig unfruchtbare Steppenlandschaft mit vereinzelten
vertrockneten Büschen. Im oberen Teil der das Tal begrenzenden Hügel
dann plötzlich dichte Wälder. Warum unten Wasser und oben Vegetation?
Anthropogener Einfluss durch Überweidung? Vom Fluss (aus der Mongolei)
angeschwemmter nährstoffarmer Sandboden? Hätte ich doch mal die
Vegetationsgeographie-Vorlesung besucht, aber da war immer irgendeine
blöde Nebenfachveranstaltung parallel…
Samstag, 09.10., 21:54h (MEZ+7)
Meine
Lieblingsstadt heißt neuerdings Schengen. In diesem luxemburgischen
Kaff wurde 1985 beschlossen, dass man innerhalb der EU (bzw. der sog.
„Schengen-Staaten“) keine Grenzkontrollen mehr über sich ergehen lassen
muss. Seitdem heißt es im Radio nicht mehr „in Kiefersfelden
Blockabfertigung, für Pkw eine Stunde Wartezeit, für Lkw sechs Stunden“.
Zwischen Russland, der Mongolei und China gibt es keine derartigen
Abkommen. Ich führe keine radioaktiven Materialien mit mir, plane
derzeit keinen Terroranschlag und könnte die Zollgebühr für meine
Goldringe, so ich denn welche hätte, eh nicht selber berechnen. Aber
meine Blase platzt gleich, Herrgott noch mal! Ich will jetzt endlich
pissen und nicht noch so ein dämliches Formular ausfüllen, dass ich gar
nicht ausfüllen kann, weil irgendeiner der zahlreichen Zöllner, die hier
unter anderem begleitet von einem Zwergschnauzer (!) im Zug unterwegs
sind, meinen Pass hat, in dem die dafür nötigen Daten stehen. Seit über
vier Stunden dauert dieses Zinnober jetzt schon an, mal schauen, ob das
noch was wird mit der Einreise in die Mongolei. Hoch lebe die
Europäische Union!
Samstag, 09.10., 23:45h (MEZ+7)
Wahrscheinlich
ist jetzt an jedem Ende des Zuges eine Lok und die beiden Lokführer
haben richtig Spaß. Schlafen kann man bei diesem dauernden Gerumse
nicht. Tagebuch schreiben leider auch nicht…
Sonntag, 10.10., 18:58h (MEZ+6)
Die
Grenzabfertigung auf der mongolischen Seite hat heute Nacht nochmals
über zwei Stunden gedauert. Dabei wurde der Zug wie oben kurz angedeutet
ständig durchgerüttelt. Das erste, was der Schaffner dann heute Morgen
in Ulan Bator zu tun hatte, war, uns das Ausreiseformular aus der
Mongolei in die Hand zu drücken, dass wir doch bitte ausfüllen sollen…
Ulan-Bator
scheint eine sehr interessante Stadt zu sein. Die Reiseführer sagen,
dass es die kälteste Hauptstadt der Welt ist (heute Morgen waren es
-4°C) und dass es die am weitesten von einem Ozean entfernteste
Hauptstadt der Welt ist. Was in den Reiseführern nicht steht, ist, dass
sich wohl keine Hauptstadt der Welt in den letzten zehn Jahren mehr
verändert hat als Ulan-Bator. Von Glasfassaden-Skyline, asphaltierten
Straßen und zahlreichen Hotels steht in den Reiseführern nämlich gar
nichts. Ob es mittlerweile auch eine Postleitzahl und Hausnummern gibt
konnten wir aus dem Zugfenster nicht ermitteln. Was es auf jeden Fall
immer noch gibt sind die zahlreichen Jurtensiedlungen am Stadtrand (und
natürlich erst recht im ländlichen Raum der Mongolei). Die Zelte stehen
oft neben „richtigen“ Häusern, neben dem Eingang parkt in vielen Fällen
das Auto, umgeben werden Jurte, Haus und Auto in der Regel von einem
Holzlamellenzaun, dessen Sinn sich mir nicht erschließt, weil er an
einer Seite unterbrochen ist.
Auf
dem Land sehen die Jurten ähnlich aus, nur in der Regel ohne Haus
nebendran und nur ganz selten mit Auto. Die Viehherden werden hier nach
wie vor vom Pferd aus beaufsichtigt. Ein bisschen eine andere Welt (eine
sehr schöne noch dazu) ist die Mongolei schon immer noch, daran können
die paar Glasbauten im Zentrum der Hauptstadt nichts ändern.
Sonntag, 10.10., 19:45h (MEZ+6)
Zwei
Dinge hatte ich mir für heute vorgenommen: ein Kamel in freier Wildbahn
sehen und mit Tatjana und Philipp (die beiden Bayern, die wir gestern
Abend an der Grenze kennen gelernt haben) Schafkopf spielen. Hat beides
funktioniert. Dirk ist jetzt wahrscheinlich der erste Mensch, der in der
Mongolei Schafkopf’n gelernt hat (an alle nicht-bayerischen Leser: es
handelt sich um das beste Kartenspiel Bayerns und somit Deutschlands und
somit der Welt).
Steppe, (Regen in der) Wüste Gobi, Viehherden,
Nomaden: es war ein sehr interessanter Aufenthalt in der Mongolei. Die
wenigen Zwischenhalte waren sehr interessant, wo gibt es schon noch
geschotterte Bahnhofsvorplätze und mehr Tiere als Autos (ja, Elli, ich
weiß, in Niederbayern)?! Vielleicht ist hier normalerweise auch mehr
los, aber wir fahren halt an einem Sonntag durch…
Ein
schönes, wenngleich schweinisch überteuertes Vergnügen war das
Mittagessen im mit Holzschnitzereien verzierten und mit Pfeil und Bogen
dekorierten mongolischen Speisewagen – zumindest dieses Klischee aus den
Transsib-Fernsehdokus stimmt also doch.
Als
wir aus dem Speisewagen zurück ins Abteil kamen, haben da schon die
nächsten Formulare auf uns gewartet, arrival card und baggage
declaration für China. Die Formulare sind ausgefüllt, der Pass ist mal
wieder bei den Zöllnern, wir stehen seit über einer Stunde auf der
mongolischen Seite der mongolisch-chinesischen Grenze. Gut fünf Stunden
wird das Zinnober noch dauern, inklusive Drehgestellwechsel auf der
chinesischen Seite. Lang lebe die Europäische Union…
Montag, 11.10., 7:44h (MEZ+6)
So,
wir haben es geschafft, wir sind in China. Der Zug rollt durch eine
schöne Gebirgslandschaft, die entfernt an die Toskana erinnert. Die
Häuser sind allerdings verfallener und die Industrieanlagen schmutziger,
auch die chinesischen Schriftzeichen und die modernen Windkraftanlagen
wollen nicht ins Italienbild passen.
Ein
Italiener saß uns gerade beim Frühstück im Speisewagen gegenüber. Sehr
amüsant, wie wir versucht haben, die nicht streichfähige Butter mit den
Stäbchen über das Toastbrot zu schmieren. Auch Frühstücksei mit Stäbchen
essen stellt uns Langnasen vor eine unerwartete Herausforderung. Mal
schauen, mit welchen Überraschungen das Mittagessen aufwarten wird, dass
chinatypisch zwischen 10 und 11 Uhr serviert werden wird.
Die
kostenlosen Verzehrgutscheine für Frühstück und Mittagessen waren das
erste positive, was uns gestern Abend in China widerfahren ist. Der
erste Eindruck hingegen war recht dubios, eigentlich war mir das Land
nach 15 Minuten schon suspekt. Das rüde Verhalten der zahlreichen
Soldaten auf dem Bahnsteig, die betont unfreundlichen Zöllner im Zug
(„WHAT’S YOUR NAME!!!“), die größenwahnsinnigen Lichtinstallationen an
Bahnhof, Einkaufszentrum und Kirchturm (!), es war schon alles recht
seltsam.
Mindestens genauso seltsam waren aber die mongolischen
Soldaten, die bei der Ausfahrt des Zuges aus dem Land – bei Dunkelheit
und Regen! - neben der Strecke standen und salutierten. Ich habe schon
oft Grenzen überschritten, aber dieser Grenzübergang wird mir wohl ewig
in Erinnerung bleiben…
Kleines Detail am Rande: an der
mongolisch-chinesischen Grenze wurden die Drehgestelle getauscht, zurück
auf die auch in China übliche „Normalspur“. Diesmal aber nicht bewacht
von grimmigen weißrussischen Soldaten, sondern diesmal durften wir ganz
offiziell – durch das geöffnete Fenster! – fotografieren und filmen. Das
macht die Sache natürlich noch interessanter. Irgendwann bin ich dann
aber doch eingeschlafen…
Montag, 11.10., 11:01h (MEZ+6)
Chjancszyokounan
war gerade der letzte von immerhin 108 Zwischenhalten zwischen Berlin
und Beijing. In drei Stunden werden wir die chinesische Hauptstadt
erreichen. Noch fahren wir durch das ländliche China, immer mal wieder
unterbrochen von einer Millionenstadt, von der wir noch nie etwas gehört
haben. In Datong (1,2 Mio. Einwohner) hatten wir vorhin das Gefühl,
dass große Teile der Stadt in den letzten fünf Jahren entstanden sind,
vor allem natürlich die unglaubliche Masse an Wohnhochhäusern.
Überhaupt, was und wo hier überall gebaut wird: riesige Brücken,
unzählige Gebäude, Autobahnen; überall stehen Baukräne. Wie wenn man das
gesamte Land betonieren wollte. Beeindruckend auch, wie viele Leute man
dafür einsetzt: an einer kleinen Baustelle an der Bahnstrecke stehen
schon mal 100 Bauarbeiter neben dem Gleis. Die Lohnkosten scheinen hier
sehr niedrig zu sein. Und der Energiebedarf sehr hoch: in den wenigen
Stunden in China haben wir jetzt sechs große Kohle- und Atomkraftwerke
mit zusammen über 20 Kühltürmen gesehen. Gegen die Dimensionen der
Kühltürme hier ist das Ruhrgebiet eine liebliche Dörferagglomeration.
Wenn in Russland alles überdimensioniert ist, dann ist hier alles
doppelt überdimensioniert.
Krass dann aber auch, was zwischen all den
Kraftwerken ist: Land. Miniäcker, die mit Maultierfuhrwerken oder auch
mit Hand und Spaten bearbeitet werden. Die extremen Disparitäten
zwischen Stadt und Land fallen schon auf diesen ersten Kilometern in
China auf.
Was wir in China danach noch erlebt haben, inklusive chinesischem Nachtzug, chinesischen Hochgeschwindigkeitszügen und Fahrten in Straßenbahn-Plagiaten, kann man im Blog der damaligen Reise nachlesen.