Die USA sind so abwechslungsreich, dass man nicht sagen kann, welche
Landschaft denn nun typisch amerikanisch ist. Sind es die quadratischen
Äcker im mittleren Westen, oder doch eher die Nationalparks in den Rocky
Mountains? Sind die schroffen Felsen am Colorado River typisch
amerikanischen oder die grünen Wiesen am Mississippi? Amerika ist
einfach alles. Alles zwischen Chicago und Los Angeles ist Amerika. Das
ist die Strecke, die ich mit dem Zug zurücklegen werde. Die Abfahrt in
Chicago war vor zwei Stunden, das heißt bis zur Ankunft in Los Angeles
sind es noch etwa 63 Stunden. Mit 2.728 Meilen (4.390 km) handelt es
sich um die längste Bahnfahrt auf meiner Amerikareise (länger als der
Mississippi!). Unterwegs werde ich unter anderem St. Louis, Dallas und
die mexikanische Grenze sehen.
Was ich im Moment sehe, wenn ich aus dem Fenster schaue, ist eine ganz
normale Straße wie viele andere auch. Das besondere daran: es ist die
Route 66. In früheren Zeiten ebenfalls eine wichtige Verbindung zwischen
Chicago und Los Angeles; heute als Verkehrsweg völlig unbedeutend, da
von großen Highways abgelöst. Aber nach wie vor ein beliebtes Denkmal
einer Zeit, in der Motels noch Flair hatten und Öl noch billig war. Die
Harleigh-Davidson-Dichte ist auf dieser eigentlich ganz normalen Straße
sehr hoch. So muss sich Freiheit anfühlen. Aber 65 Stunden im Zug sitzen
und diese traumhaften unendlichen Weiten zu genießen hat auch etwas von
Freiheit. Mir fehlt nur die Freiheit, diese verdammte Klimaanlage
auszuschalten. Ich verstehe nicht, warum man bei 35°C Außentemperatur
frieren muss…
An der Grenze von Arkansas nach Texas (die Grenzstadt trägt den
passenden Namen Texarkana) bin ich heute Morgen aufgewacht, in Texas
werde ich heute Abend wieder einschlafen und morgen Abend um sechs werde
ich immer noch Texas sein. Bis dahin werde ich dann fast 2.000
Kilometer lang den zweitgrößten Bundesstaat der USA (nur Alaska ist
größer) durchquert haben. Mit 678.000 qkm ist Texas fast doppelt so groß
wie Deutschland, hat mit 22 Mio. aber nur gut ein Viertel so viele
Einwohner. Der Staat, in dem George W. Bush Gouverneur war; in dem die
Todesstrafe eine Selbstverständlichkeit ist; in dem ein Drittel der
amerikanischen Ölvorkommen lagern.
Das Bild, das ich vor der Reise von Texas hatte, bestand aus einer
großen gelben vegetationsarmen Fläche, aus der die Skylines von Dallas
und Houston sowie ein par Erdölraffinerien herausragen. Die große gelbe
Fläche mag für den Westen von Texas zutreffen, für den Nordosten muss
ich dieses Bild korrigieren: hier sieht man vor lauter Bäumen den Wald
nicht mehr! Die Vegetation ist sehr dicht und vielfältig, der Boden
nicht gelb, sondern rötlich (wie man es auch aus dem Mittelmeerraum
kennt). Auch seltsam: es regnet. Wir haben jetzt seit über einer Woche
(seit dem Abflug in Montreal) keinen Regen mehr gesehen, an den Anblick
müssen wir uns erst wieder gewöhnen. Woran wir uns auch gewöhnen müssen:
an unfreundliche Amerikaner. Zwei Vertreter dieser seltenen Spezies
sind die zwei Schaffner in unserem Waggon. Es ist nicht übertrieben,
diese humorresistenten, herrsch- und streitsüchtigen Wesen als
Arschlöcher zu bezeichnen. Statt mich über sie aufzuregen, ziehe ich es
vor, mich über sie und ihre selbst auferlegte Bedeutung lustig zu
machen.
16 kleine Jägermeister flogen zur Exkursion nach Kanada,
nach der Abfahrt in Vancouver waren nur noch drei von ihnen da.
Drei kleine Jägermeister fuhren mit dem Amtrak-Zug,
zwei sind noch weitergefahren, der dritte hatte in Chicago schon genug.
Zwei kleine Jägermeister fahren zusammen nach Texas,
in Dallas trennen sich dann ihre Wege. Das war’s.
Christoph und Uli sind jetzt beide auf dem Weg zu ihrer Uni in North
Carolina bzw. Illinois, meine letzten zehn Tage in Nordamerika werde ich
also alleine verbringen. Das „wir“ im Tagebuch wird sich in ein „ich“
verändern, ansonsten bleibt hoffentlich alles so toll wie es bisher war.
Ich kam mir gerade vor wie der Passagier eines Kreuzfahrtschiffes, dem
eineinhalb Stunden Landgang gestattet werden. Mein Kreuzfahrtschiff ist
der „Texas Eagle“ von Amtrak, der mich ja bekanntlich noch bis Los
Angeles bringen wird. Landgang hatte ich in der texanischen Stadt Fort
Worth, die mit dem 30 Meilen entfernten und viel bekannteren Dallas
(„Big D“) quasi zusammengewachsen ist. Also bin ich bei gefühlten 40°C
Außentemperatur (das sind gefühlte 25°C mehr als im unterkühlten
Waggon…) durch die Downtown von Fort Worth gelaufen. Etwa 50% der
Passanten dort kannte ich aus dem Zug, deshalb wahrscheinlich das
Kreuzfahrt-Feeling. Die Stadt selbst ist recht unspektakulär, aber
gerade das zeichnet sie meiner Meinung nach aus: endlich einmal eine
ganz normale Stadt, die nicht touristisch überprägt ist und nicht durch
grandiose Bauwerke und Festivals die Aufmerksamkeit auf sich ziehen
will.
Die wenigen Bankentürme mit ihren Glasfassaden können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Fort Worth irgendwie ein bisschen im wilden Westen
stehen geblieben ist. Manche Steakhouses können nicht leugnen, dass Sie
einmal Saloons waren. Sicherlich ein großer Kontrast zur hektischen
Nachbarstadt, durch die sich Christoph gerade durchschwitzt.
Schön, dass es in den meisten Amtrak-Fernzügen einen Lounge-Wagen gibt.
Im Untergeschoss befindet sich eine kleine Snackbar mit typisch
amerikanischem Angebot (also fettiges Zeug, das in der Mikrowelle warm
gemacht und in ganz viel Müll eingepackt wird). Das Obergeschoss
hingegen dient als Panoramawagen: große Fensterscheiben, die bis zur
Decke reichen; gemütliche, teils drehbare Sitze; Ansagen, an welchen
Naturschönheiten wir gerade vorbeifahren. An besonders schönen
Streckenabschnitten in der Nähe von Nationalparks sind sogar Angestellte
des National Park Service im Loungecar und versorgen die Fahrgäste mit
Informationen, Broschüren, Bildern und den Antworten auf deren Fragen.
Einen solchen Streckenabschnitt befahre ich gerade in der
westtexanischen Prärie. Die – durch Aufstauung des Rio Grande künstlich
entstandenen – Amistad National Recreation Area haben wir bereits
durchquert, beeindruckend war auch gerade die Fahrt über die Pecos High
Bridge, die höchste Eisenbahnbrücke in den Vereinigten Staaten. Sie war
schon in verschiedenen Filmen zu sehen und kam mir vielleicht deshalb so
bekannt vor. Der Pecos River, über den die Brücke führt, mündet wenige
Meilen weiter südlich in den Rio Grande, der hier die Grenze zu Mexiko
bildet. Die Hügel, die ich am Horizont sehe, gehören bereits zu Mexiko.
Del Rio, unser letzter Halt, ist eine Grenzstadt zu Mexiko. Die
Einflüsse des südlichen Nachbarn machen sich hier u.a. im Baustil und
den spanischen Aufschriften bemerkbar. Das heutige Texas gehörte (von
1821 bis 1836) sogar einmal zu Mexiko, das erklärt auch Städtenamen wie
San Antonio und El Paso. Bis Texas 1845 schließlich von den USA
annektiert wurde, war es mehrere Jahre lang ein selbständiger Staat. Bis
heute besitzt Texas laut Verfassung das Recht, die Union jederzeit auf
eigenen Wunsch verlassen zu können. Ist halt schon ein ganz besonderer
Staat, dieses Texas…
Nicht erst beim Blick auf die Geschichte ist mir die Ähnlichkeit der
Rolle von Texas in Amerika mit der Rolle Bayerns in Deutschland
aufgefallen (bitte bedenken, dass die CSU-Abgeordneten seinerzeit dem
Grundgesetz der BRD nicht zugestimmt haben!): Sowohl Texas als auch
Bayern liegen jeweils im Süden des Landes; beide sind im Vergleich zu
anderen Staaten bzw. Bundesländern sehr groß und beharren auf ihrer
eigene Identität; beide sind wirtschaftlich stark; beide sind politisch
konservativ (obwohl es natürlich Unterschiede zwischen den Republikanern
und der CSU gibt); beide fallen durch einen markanten Dialekt auf;
beide legen Wert auf ihre Tradition (Cowboyhut und Lederhose würden
bestimmt auch gut zusammenpassen); und mal ganz ehrlich: kann man es
sich nicht gut vorstellen, dass Ottfried Fischer in die Rolle von
„Walker, Texas Ranger“ schlüpft und Chuck Norris den Bullen von Tölz
spielt? Meiner Meinung kann man also durchaus davon sprechen, dass die
Texaner die Bayern Amerikas sind und umgekehrt Bayern das deutsche Texas
ist.
San Antonio und Del Rio liegen ungefähr auf dem 29. Breitengrad. Einen
Vergleich in Europa kann ich nicht nennen, denn Europa reicht nicht so
weit nach Süden. Einzig die kanarischen Inseln können mithalten, die
erstrecken sich zwischen dem 27. und dem 29. Breitengrad. Sogar Kairo
liegt nördlicher als ich gerade bin. Soweit südlich war ich noch nie
zuvor, und solche Temperaturen habe ich wohl (außer in der Sauna) auch
noch nie erlebt. Wahnsinn! Man kann die Sonne nicht mehr wirklich zur
Bestimmung der Himmelsrichtungen verwenden, weil sie so steil über dem
Horizont steht, dass sie erstens extrem blendet und man zweitens keine
Bewegung der Sonne ausmachen kann (Sonnenauf- und Untergang gehen
schnell vonstatten, den Rest des Tages ändert sich der Sonnenstand
scheinbar nicht). Ein großer Unterschied zu Europa, wo die Sonne
scheinbar auf niedrigerem Level um einen herumwandert (ich weiß, die
Erde wandert um die Sonne und nicht umgekehrt); wenn sie überhaupt
scheint. Hier scheint die Sonne offensichtlich etwas häufiger. Pflanzen
und Tiere haben Anpassungsmechanismen gefunden, um in diesem Klima
überhaupt überleben zu können (man findet sie alle im Skript zur
Vorlesung Landschaftsökologie). Der Mensch auch: er verlässt einfach nie
seine klimatisierte Scheinwelt und verbringt den ganzen Tag hinter den
geschlossenen Fenstern von Büros, Autos und Panoramawagen.
Wenn das hier nicht der wilde Westen ist, was dann?! Früher haben hier,
im Westen des heutigen Texas, Apachen und Komantschen gelebt. Billy the
Kid und Wyatt Erp waren tatsächlich hier, all die anderen fiktiven
Westernhelden kann man sich hier zumindest gut vorstellen. Allen voran
natürlich Winnetou, den Häuptling der Appachen, und seinen Blutsbruder
Old Shatterhand. Die bekannten Filme mit Pierre Brice und Lex Barker
wurden zwar im heutigen Kroatien gedreht, der eigentliche Schauplatz der
Erzählungen von Karl May zieht aber gerade vor meinem Fenster vorbei.
Die Steppe hier mit all den Canyons sowie der trockenheitsresistenten
Vegetation ist die perfekte Kulisse für einen Westernfilm. Noch ein paar
Planwagen, ein Trupp der Kavallerie und ein paar Indianertipis, dann
ist die Szenerie perfekt. Die typischen Westernstädte gibt es bereits
bzw. es gab sie einmal: ab und zu fährt man einmal an einer verlassenen
Siedlung vorbei; manchmal leben auch noch zehn Menschen in einer
Siedlung, in der früher einmal 200 gewohnt haben. Die Bevölkerungsdichte
hier tendiert gegen null; in erster Linie sieht man Steine, Sträucher
und trocken gefallene Flusstäler. Auf der zwölfstündigen Fahrt von San
Antonio nach El Paso hat mein Zug (es ist einer von drei Personenzügen,
die hier pro Woche und Richtung vorbeikommen!) genau drei Zwischenhalte,
davon ist einer ein Bedarfshalt. Wenn das nicht der wilde Westen ist,
was dann?!
Von all den Tagen, die ich bisher schon im Zug verbracht habe, war heute
sicherlich der eindrucksvollste. Den wilden Westen von Texas habe ich
ja schon beschrieben, aber auch danach hat sich ein Highlight an das
nächste gereiht. Am spektakulärsten war der Regen in der
Chihuahuan-Wüste. Nein, du hast dich nicht verlesen: ich habe wirklich
Regen in der Wüste gesehen. Ein interessantes Schauspiel. Alle trocken
gefallenen Flusstäler werden sofort mit Wasser gefüllt, weil es im Sand
nicht versickern kann. Deshalb sieht es nach wenigen Minuten Regen schon
irgendwie überall nach Hochwasser auf. Mir fiel sofort die Statistik
ein, dass in der Sahara mehr Menschen ertrinken als verdursten. Das kann
ich mir jetzt besser vorstellen, denn wer rechnet schon damit, dass ein
Sandkasten innerhalb kürzester Zeit zum Wildbach werden kann?
Zwei Texaner haben meinen Verdacht bestätigt, dass die ganzen Gräser und
Zwergsträucher eigentlich immer gelb sind und nur nach den seltenen
Regenfällen in der Region grün werden. Vom imposanten Duft, den sie dann
angeblich versprühen, habe ich leider nichts mitbekommen (du weißt
schon, die Klimaanlage…), aber den seltenen Anblick einer grünen
(Halb-)Wüste kann mir keiner mehr nehmen.
Die Chihuahuan-Wüste ist die größte Wüste Nordamerikas. Etwa 90% der
Wüstenfläche liegen in Mexiko, der Rest im Westen von Texas. Das soll
die Überleitung zur nächsten interessanten Sache sein, die ich heute
gesehen habe: die mexikanisch-amerikanische Grenze, in diesem Fall die
Grenze zwischen Mexiko und New Mexico. Für uns Europäer mittlerweile
völlig fremd, handelt es sich tatsächlich um eine sichtbare Grenze. Der
Grenzzaun soll ja schließlich die bösen Mexikaner (und alle anderen
Latinos) davon abhalten, illegal in die USA einzureisen. Quasi Berliner
Mauer andersrum. In einer gewissen Art und Weise faszinierend sind die
Behausungen unmittelbar hinter dem Grenzzaun, die davon zeugen, dass das
Wohlstandsniveau in den USA und in Mexiko erheblich voneinander
abweicht.
Der Zug hatte einen knapp einstündigen Aufenthalt in der Grenzstadt El
Paso, der zweitältesten Siedlung in den Vereinigten Staaten. Die Stadt
war seit ihrer Gründung der wichtigste Übergangspunkt über den Rio
Grande (der, nebenbei erwähnt, Mitte August alles andere als grande
ist!). Da der Fluss hier heute die Grenze zwischen Mexiko und den USA
bildet, befinden sich an den beiden Ufern zwei unterschiedliche Städte:
das texanische El Paso mit etwa 600.000 Einwohnern und das mexikanische
Ciudad Juarez mit weiteren 1,7 Mio. Einwohnern. Es handelt sich um den
größten binationalen Ballungsraum Nordamerikas. Das ganze umrahmt von
bis zu 3.000m hohen Bergen.
Ach ja, Berge: die Rocky Mountains (bzw. deren südliche Ausläufer) habe
ich heute ja auch noch überquert und mit Alpine „das Tor zum
Big-Bend-Nationalpark“ gesehen. Wie gesagt: der bisher eindrucksvollste
Bahntag.
Krönendes Highlight, während ich gerade das Tagebuch gefüttert habe: der
bisher schönste Sonnenuntergang, seit ich in Amerika bin. Irgendwo im
Grenzgebiet von New Mexico und Arizona. Echt schön.