Im California Zephyr von San Francisco nach Chicago (3.924km)

 

Über die Bedeutung der Transkontinentaleisenbahnen in der amerikanischen Geschichte habe ich an dieser Stelle bereits geschrieben. Die erste und somit älteste von ihnen wurde im Jahr 1869 zwischen Chicago und San Francisco eröffnet. Der berühmte goldene Nagel, welcher die zwei aus Westen bzw. Osten kommenden Schienenstränge verband und somit zum Symbol der Transkontinentalbahn wurde, befindet sich in der Nähe von Salt Lake City („Golden Spike National Historic Site“). Die alte Strecke existiert größtenteils noch und wird (neben vielen Güterzügen) vom vermutlich bekanntesten aller Amtrak-Fernzüge, dem California Zephyr, einmal täglich befahren.
Ja, richtig vermutet, ich sitze gerade in eben diesem California Zephyr, um von San Francisco (bzw. Emeryville, wohin ich mit dem Bus über die 13km lange Bay Bridge gefahren bin) über Salt Lake City und Denver zurück nach Chicago zu fahren. Sacramento, die Hauptstadt Kaliforniens, habe ich gerade passiert und befinde mich jetzt auf der Auffahrt zur Sierra Nevada (vereinfacht ausgedrückt die erste Gebirgskette östlich der Pazifikküste). Im Zug herrscht ein bisschen Chaos, weil wegen technischer Probleme ein Sitzwagen fehlt. Das ist mir jetzt aber egal, ich freue mich auf die angeblich schönste Bahnstrecke der USA.



Der 16. Bundesstaat meiner USA-Reise ist Nevada. Der Sonnenuntergang hier kann sich sehen lassen, die Landschaft auch. Dennoch war die Auffahrt zum Donnerpass auf der kalifornischen Seite der Sierra Nevada landschaftliches Highlight des ersten Tages im California Zephyr. Die Nadelwälder an den Hängen und die tief eingeschnittenen Täler erinnern sehr an die Alpen. Dass ich aber nach wie vor nicht in der Schweiz, sondern in den USA bin, erkenne ich daran, dass der Zug schon wieder zweieinhalb Stunden Verspätung hat…
Die trockene salzig-sandige Ebene, die der Zug gerade durchfährt, lässt erahnen, wie wohl die große Salzwüste aussieht, die er heute Nacht auf dem Weg nach Salt Lake City durchfahren wird. Von der Wüste trennen mich aber u.a. noch die Humboldt Mountains und der Humboldt River. Für einen Studenten der Humboldt-Universität natürlich nicht uninteressant…



Es ist das letzte Mal auf meiner Amerikareise, dass ich die Rocky Mountains sehe. Dafür aber so intensiv wie bisher noch nicht. Seit heute morgen – ich bin mit Blick auf den Utah Lake südöstlich von Salt Lake City aufgewacht – wird der Horizont von hohen Bergen dominiert.
Den größten Teil des Tages hat uns der Colorado River begleitet, der sich immer mal wieder durch enge Canyons schlängelt – die Bahnlinie jeweils in Sichtweite. Wir folgen ihm flussaufwärts, mittlerweile ist er ein kleiner Bach. Die Quelle kann nicht mehr weit sein.
Die zwei Frauen aus Massachusetts, die mir vorhin im Speisewagen gegenübersaßen, haben mir erklärt, wovon der Name Colorado vermutlich abgeleitet ist: von der color red, der Farbe rot. Die Erklärung erscheint mir plausibel, schließlich sind die meisten Berge (sowohl der Boden auch als die Felsen) tatsächlich leuchtend rot! Einmal mehr ein faszinierendes Naturschauspiel, das ich mir mit meinen rudimentären geologischen Kenntnissen nicht erklären kann. Dafür konnte ich mir (und drei Mitreisenden) mit meinem Geographie-Studienwissen z.B. erklären, warum es in Glenwood Springs (in der Nähe des bekannten Wintersportorts Aspen) plötzlich geregnet hat und warum die Rockies selbst grüner sind als das westliche Vorland. Außerdem musste ich ein paar Fragen über den Klimawandel beantworten, die Wissenslücken auch bei gebildeten Amerikanern in dieser Beziehung sind wirklich erstaunlich. Aber woher sollen sie es auch wissen, wenn Politiker und Zeitungen das Problem ignorieren oder gar leugnen und wenn das sinnvollste, das auf gefühlten 200 Fernsehsendern läuft, Simpsons und South Park sind?




Ich habe es im Tagebuch noch gar nicht erwähnt, aber wir waren schon in Kanada wirklich geschockt vom nordamerikanischen Fernsehprogramm, das tatsächlich noch schlechter ist als das in Deutschland. Das deutsche Fernsehprogramm besteht im Wesentlichen aus Tagesschau, heute-journal, ein paar guten Reportagen und Unmengen von Schrott. In Amerika gibt es weder Tagesschau, noch heute-journal, noch gute Reportagen, der Rest ist identisch.
Was mich an den Film „Bowling for Columbine“ von Michael Moore – der dieses Problem sehr treffend beschrieben hat - erinnert hat, ist die ständige Panikmache im amerikanischen Fernsehen. Wenn in der Tierdokumentation der Eisbär auf die nächste Eisscholle springt, wird das mit einer Musik hinterlegt, wie wenn Indiana Jones gerade gegen die gefährlichste Schlange der Welt kämpfen würde.
Der äußerst lange amerikanische Wetterbericht (oder war es gar ein Wetterkanal?) besteht zu großen Teilen aus Warnungen. Besonders lächerlich sind die „Thunderstorm-Warnings“ (richtig, ein thunderstorm ist ein ganz normales Gewitter), wo die Moderatorin dann minutenlang vor detaillierten Karten erklärt, wo genau Blitz und Donner auftreten könnten. Hinterlegt mit einer Musik, wie wenn ein Eisbär auf die nächste Scholle springen würde.
Eigentlich keine Erwähnung verdient haben die so genannten „Nachrichten“. Sie als lächerlich zu bezeichnen ist keineswegs übertrieben. Von außerhalb der USA kriegt man quasi nichts mit, und von innerhalb der USA auch nur unwichtigen Krampf. Nehmt den Amerikanern also bitte nicht übel, dass sie ungebildete Umweltverschmutzer sind, sie können nichts dafür. Das Fernsehen macht sie zu dem, was sie sind!




Der Ort Fraser trägt den Beinamen „the icebox of America“, weil die Temperatur hier im Winter auf bis zu -46°C absinken kann. Auf dem Bahnsteig habe ich gerade gemerkt, dass es hier auch m Sommer sehr kühl ist. Schließlich sind wir ja auch auf über 2.000m Höhe. Der California Zephyr erreicht im Moffat-Scheiteltunnel eine Höhe von 2.820 m.ü.M., der höchste Punkt, der von einem Amtrak-Zug erreicht wird. Bis dahin sind es noch etwa 15 Minuten Fahrzeit. Auf der anderen Seite des zehn Kilometer langen Tunnels folgt dann die etwa zweieinhalbstündige Abfahrt nach Denver. Nachdem ich den Flughafen ja schon kenne, werde ich nachher dann endlich auch einmal etwas von der Stadt sehen.
Was ich gerade eben schon gesehen habe (und im Moment sehe), ist Schnee. Zumindest die Berggipfel um uns herum (die meisten von ihnen höher als 4.000 Meter) sind allesamt schneebedeckt. Eigentlich ein völlig normaler Anblick im Gebirge. Viele Amerikaner sind vorhin aber fast durchgedreht, weil sie teilweise seit vielen Jahren keinen Schnee mehr gesehen haben. Wirklich witzig. Und natürlich nachvollziehbar, schließlich fällt in großen Teilen der USA tatsächlich in der Regel ganzjährig kein Schnee. Ganz anders hier in den Rocky Mountains: im Winter muss hier unglaublich viel Schnee liegen, anders kann ich mir die sehr gut ausgebaute Skitourismus-Infrastruktur nicht erklären. Im Winter ist hier bestimmt die Hölle los. Im Sommer ist die größte Attraktion wahrscheinlich der California Zephyr, der einmal pro Tag und Richtung vorbeikommt.




Es ist 16:19h. Die planmäßige Ankunft in Chicago war vor einer halben Stunde. Chicago ist aber noch 279 Meilen entfernt. Mit einer Verspätung von mehr als sechs Stunden haben wir gerade Ottumwa, ein kleines Nest in Iowa, verlassen. Es wird noch mindestens eineinhalb Stunden dauern, bis wir endlich den Mississippi überqueren. Die Stadtbesichtigung in Chicago kann ich mir für heute langsam abschminken, die Pizza in Little Italy auch.
Das ganze wäre ja halb so schlimm, wenn wir wenigstens durch eine spannende Landschaft bummeln würden. Aber das Gegenteil ist der Fall: Iowa, der 19. Bundesstaat meiner USA-Reise, ist der definitiv langweiligste. Weizenfeld, Weizenfeld, Weizenfeld, weißes Haus, grüner Baum, Weizenfeld, grüner Baum, Weizenfeld. So geht das jetzt seit Stunden. Oder, um es positiver auszudrücken: endlich kann mal wieder stundenlang lesen, ohne etwas zu verpassen!



Es ist 19:15h. Immer noch Weizenfelder. Aber immerhin den Mississippi überquert, also in Illinois. Noch etwa 160 Meilen. Krass, dass weiträumig östlich des Mississippi immer noch alles überflutet ist, wo doch die Hochwasser-Nachrichten schon so lange her sind.



Es ist 20:36h. Weiß nicht, ob immer noch Weizenfeld. Es ist dunkel. Noch 104 Meilen. Mittlerweile mehr als sieben Stunden Verspätung, weil offensichtlich ständige kaputte Güterzüge die Strecke blockieren. Habe Hunger, aber nichts mehr zu essen. Nur noch eine von fünf Toiletten benutzbar. Langsam nervt’s.


Es ist 21:29h. Chicago immer noch nicht in Sicht. Immer noch Hunger. Fingernägel machen nicht satt.


Es ist 23:47h. Bett. Endlich.