Freitag, 01.10., 15:07h (MEZ)
Der
Puls ist schon etwas höher als normal. Falls man das so nennen kann,
riecht es hier russisch. Die Angestellten sprechen nur russisch, die
Hinweistafeln sind kyrillisch. Schon in Russland? Nein, Berlin, Bahnhof
Zoo, im Nachtzug nach Moskau. Schlafwagenabteil mit ausklappbarem
Waschbecken. Von der russischen Hauptstadt trennen uns noch 38 Stunden,
zwei Zeitzonen und drei Landesgrenzen. Los geht’s.
Freitag, 01.01., 17:20h (MEZ)
Wie
schaffe ich einen Tagebuch-Eintrag ohne die zahlreichen
„Oder“-Wortspiele, mit denen wir uns gerade die Wartezeit in Frankfurt
überbrückt haben? Schwierig. Ich könnte schreiben, dass die Oder gerade
ganz schön viel Hochwasser hat. Kein Wunder nach dem Wetter in der
vergangenen Woche. Oder?
Freitag, 01.01., 17:58h (MEZ)
Jedes
Jahr werden 25 Hektar Fläche für Einmalstäbchen gerodet, sagt der
Reiseführer. Mit dieser einfachen Zahl versuchen wir gerade, uns die
Dimension unserer beiden Urlaubsländer klar zu machen, die Größe
Russlands und die Einwohnerzahl Chinas: 25 Hektar sind etwa 25 große
Fußballfelder. 25 Fußballfelder komplett voll mit Bäumen, das ist schon
eine Menge Holz – im wahrsten Sinne des Wortes. Aus jedem einzelnen Baum
lassen sich verdammt viele kleine Holzstäbchen machen. Also müssen 1,3
Mrd. Menschen, die mit Einmalstäbchen essen, verdammt viel sein. Krass,
gibt es viele Chinesen.
Russland ist etwa 17 Mio. km² groß und damit
fast doppelt so groß wie Europa (natürlich ist der Vergleich Quatsch,
weil fast ein Drittel Russlands in Europa liegt…) oder 6.650 Mal so groß
wie das Saarland (mit dem man ja Flächenangaben sonst immer
vergleicht). Würde ganz Russland voll stehen mit Bäumen, aus denen die
1,3 Mrd. Chinesen Einmalstäbchen herstellen würden, dann würde der
Holzvorrat für 68 Millionen Jahre reichen. Krass, ist Russland groß.
Freitag, 01.01., 19:00h (MEZ)
Ich
bin begeistert von Dirks Kreativität. Er sitzt gerade neben mir und
zeichnet alle Lebensmittel, die wir vor der Abfahrt gekauft haben, in
seinen Notizblock. Alles, was wir essen und trinken, streicht er durch,
damit wir immer wissen, was noch da ist. Coole Idee. Wie er in diesem
wackelnden Zug so schön zeichnen und – mit kyrillischen Buchstaben! –
schreiben kann ist mir sowieso ein Rätsel. Ich werde ihn weiter von der
Seite beobachten und bewundern.
Freitag, 01.10., 21:38h (MEZ)
Die
Betten sind ausgeklappt, das Nachtlicht angeknipst. Der erste Tag
nähert sich dem Ende, der Zug nähert sich Warschau. Irgendwann heute
Nacht werden uns weißrussische Zöllner aus dem Schlaf reißen und uns
Formulare in die Hand und Maschinengewehre unter die Nase drücken. Wir
haben aber nichts zu befürchten, denn wir haben uns hartnäckig
geweigert, für den Schlafwagenschaffner Schuhe zu schmuggeln. Nach zwei
Wörterbüchern und der Tüte voller neuer Schuhe war klar, was mit „darf
ich Sie bitten, über die Grenz zwei oder drei Schuh“ gemeint war. Je
näher wir Russland kommen, desto skurriler wird alles. Trotz einiger
schlechter Erfahrungen bei vergangenen Besuchen freue ich mich auf ein
Wiedersehen mit dem größten Land der Erde.
Samstag, 02.10., 9:32h (MEZ+1)
Gelbe
und rote Bäume in Weißrussland: von wegen, es gäbe in kontinentalen
Klimaten keine Übergangsjahreszeiten. Wenn das da draußen kein Herbst
ist, was dann?!
Die Grenzzeremonien zwischen Polen und Weißrussland
heute Nacht haben etwa drei Stunden gedauert, spektakulärer Höhepunkt
war natürlich die Umspurungshalle: angeblich, damit es nicht von Feinden
mit der Eisenbahn überrollt werden kann, hat sich das russische
Zarenreich seinerzeit für eine breitere Spurweite entschieden, als die
in Westeuropa übliche „Normalspur“ von 1.435 mm. Das führt bis heute zu
aufwändigen Umspurungsaktionen im Personen- wie im Güterverkehr. Unser
Zug wurde – aufgeteilt auf mehrere nebeneinander stehende Zugteile – in
eine Art große Lagerhalle gebracht, dort wurde dann Waggon für Waggon
angehoben, die alten Drehgestelle gelöst und herausgerollt und neue,
breitere Drehgestelle wurden in die Halle gerollt und in den Waggons
verankert. Klingt interessant? Ist es auch.
Samstag, 02.10., 10:43h (MEZ+1)
Subsistenzbauern
neben Großbetrieb mit Riesenäckern; Uralt-Lkw neben neuem Audi; kleine
Holzhäuser mit rauchendem Schornstein neben markanten
Industriebetrieben. Weißrussland scheint ein Land der Gegensätze zu
sein.
Samstag, 02.10., 13:15h (MEZ+1)
Minsk
war (nach Berlin und Warschau) schon die dritte Hauptstadt auf unserer
Reise. Hat natürlich nur – während Ein- und Ausfahrt und 20 Minuten am
Hauptbahnhof – für einen ersten Eindruck gereicht. Von den Gebäuden her
eine kleine Schwester Moskaus, überraschend moderner (bzw.
modernisierter) Fuhrpark des öffentlichen Nahverkehrs, sehr viele und
große Industriebrachen, überraschend hässliche Neubauten
(„wahrscheinlich kommt Architektur hier auch zehn Jahre später an“),
keine strukturierte Stadtentwicklung erkennbar. Aber alles in allem
wirkt die Stadt durchaus sympathisch und einladend. Der Unterschied
zwischen dem großen Minsk und dem ländlichen Weißrussland, durch das wir
jetzt wieder fahren, ist auf jeden Fall beeindruckend. Neubauten auf
dem Land sind in der Regel nicht fertiggestellte Bauruinen, während ein
Großteil der Landbevölkerung scheinbar in alten Holzhäusern wohnt. Wir
haben noch nicht herausgefunden, warum die Einheimischen so gerne mit
großen Plastiktüten durch den Wald laufen. Herausgefunden haben wir
indes, dass die herbstlich-bunten Mischwälder hier in Weißrussland viel
schöner sind als die Kiefern-Monotonie gestern Nachmittag in
Brandenburg.
Samstag, 02.10., 20:08h (MEZ+2)
Ganz
offensichtlich unterscheiden sich Russland und Weißrussland nur
minimal, uns ist nämlich gar nicht aufgefallen, dass wir die Grenze
passiert haben. Bei der Einfahrt in den Bahnhof von Smolensk haben wir
es dann gemerkt, aber auch nur, weil wir aus der Landkarte wussten, dass
Smolensk in Russland liegt. Die Dörfer, Städte und Wälder sehen sich in
beiden Ländern sehr ähnlich, die Bahnhofsgebäude – allesamt gepflegt
und sauber! – unterscheiden sich in der Art des Türkistones, sehen aber
sonst völlig identisch aus. Im letzten Bahnhof in Weißrussland – Orscha –
haben wir in der Bahnhofshalle in Form eines großen Wandgemäldes
erstmals Bekanntschaft mit Lenin gemacht. Er wird uns auf unserer
weiteren Reise noch häufiger begegnen…
Mittlerweile
ist es wieder dunkel, die Birkenwälder sind einem Meer von Hochhäusern
gewichen. Das erste Einkaufszentrum mit Glitzerfassade ist gerade am
Fenster vorbeigezogen, jetzt sind wieder Wohntürme vor dem Fenster.
Schade, dass wir bald aussteigen müssen. War eine sehr komfortable,
angenehme Fahrt von Berlin hierher. Jetzt heißt es Abschied nehmen von
unserem schönen Abteil mit dem ausklappbaren Waschbecken, von den
humorvollen Zugbegleitern Alexander und Anja, vom beständigen Rumpeln.
Das nächste Abenteuer wartet bereits. Wir sind in Moskau!